wo ist luther?

Die Feldsteinkirche liegt auf einer leichten Anhöhe. Sie hat viel erlebt. Über 625 Jahre sind kein Pappenstiel. Es gab gute wie schlechte Zeiten. Im dreißigjährigen Krieg wurde sie niedergebrannt und erst 1824/25 wiederaufgebaut. Im Zweiten Weltkrieg ein weiterer Schicksalsschlag. Diesmal traf es den Turm. Notdürftig wurde er 1959 wieder geflickt. Die Spuren des Krieges sind zu sehen. Ich stehe auf dem Friedhof von Haselberg. Weit weg vom aufgedrehten lauten Berlin.

In Ostbrandenburgischen unweit der polnischen Grenze scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Nach ein paar Schritten entdecke ich eine prächtige, gutgepflegte Grabstätte. Dort ruht Freiherr August Friedrich von Eckardstein, steht geschrieben, einer der letzten adligen Gutsherren von Haselberg. 1945, als der Krieg ins kleine Dorf kam, brannte das Schloss der Eckardsteins nieder. Bis heute ist unklar, wer in den Maitagen 1945 mit einem Male viele Hunderte Jahre Adelsgeschlecht auslöschten. Abziehende SS-Truppen oder die einrückende Rote Armee?

 

Haselberg. Dorfkirche. Quelle: Wikipedia.

 

Auf einem Hinweisschild lese ich: „Die Haselberger Dorfkirche ist von schlichter Schönheit, wie viele in der Mark.“ Am anderen Ende des Friedhofes entdecke ich dicht beieinander liegende einfache Soldatengräber. Der Jüngste war Siebzehn, lese ich auf einem Holzkreuz. Gefallen bei der letzten Schlacht vor Berlin. Plötzlich steht ein älterer Mann neben mir. Wie aus dem Nichts ist er aufgetaucht. Er mustert mich, den Fremden, mit misstrauischen Blicken. Um die Pause abzuwürgen, frage ich, was denn hier am idyllischen Ende der Welt bei Kriegsende passiert sei. Ich rede wie ein Wasserfall. Der Alte nickt stumm. Dann sagt er, er sei nicht von hier. Anfang Mai 1945 wäre seine Familie auf der anderen Seite der Oder vertrieben worden. Da sei er gerade mal zwölf Jahre alt gewesen.

Das Schicksal habe ihn schließlich nach Haselberg verschlagen. Der Mann verschränkt seine abgearbeiteten Hände. Dann stemmt er sie in die Hüften, beginnt zu erzählen. Er habe nie etwas anderes gemacht als Bauer zu sein. In der LPG habe er gearbeitet, von früh bis spät, in der Schweinezucht. „Wir haben das Volk ernährt“, erklärt er stolz. Heute sei das doch keine Landwirtschaft mehr. Überall werde Raps und Mais angebaut, für die Tankstelle. „Nur für´s Geld.“ Der Bauer schweigt wieder. Ich frage, was er denn von den Pfarrersleuten hält? Der eigentliche Grund, warum ich nach Haselberg gefahren bin. Das Pastorenpaar hatte es bis in die großen Nachrichtenmagazine geschafft. Die Pfarrer, so heißt es, sympathisieren mit Pegida und der AfD. Darüber sei die Gemeinde in Streit geraten. Jetzt rede keiner mehr mit dem anderen.

 

Haselberg. Parkmauer aus Feldsteinen. Quelle: Wikipedia.

 

Der ehemalige Schweinezüchter zuckt mit den Schultern. Ich frage vorsichtig nach. Kurz und knapp antwortet er: „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Ich habe keinen Draht zu Gott.“ Die Turmglocke schlägt die volle Stunde. Wir schweigen. Wo denn das Pfarrhaus sei, frage ich in die sich ausbreitende Stille, die nicht enden will. Das könne ich nicht verpassen, ein großes Anwesen, da stecke viel Geld drin, antwortet er. Am Ortsrand, ich würde es schon finden. Unsere Wege trennen sich. Wir wünschen uns einen schönen Tag. Die Schwalben flirren durch die Lüfte. Im Dorf herrscht Sonntagsruhe. Das Pfarrhaus ist verschlossen.

Kirche und Pfarrhaus scheinen eine feste Burg zu sein. Uneinnehmbar. Die beiden Pfarrersleute wollen von Journalisten und Fremden nichts wissen. Trotz aller Versuche gibt es keine Lebenszeichen, nicht das geringste Zeichen einer Gesprächsbereitschaft. Reden? Worüber? Dialog, nein danke! Kein Wort nirgends. Es ist wenige Tage vor dem Kirchentag, auf dessen Plakaten steht: „Das Paradies ist überall!“ Die beiden Pfarrer haben sich verschanzt. Eingemauert in ihrem Weltbild, in dem sie offenbar nur noch Bedrohung, Dekadenz, Feindschaft und Weltuntergang wittern. Das christliche Abendland ist in Gefahr. Vielleicht fühlen sie sich als die letzten aufrechten Christen, als Retter in höchster Not?

Ich besuche den Sonntagsgottesdienst. Setze mich in die letzte Reihe. Vielleicht dreißig Christen sind versammelt. Die Sonne strahlt freundlich auf den Altar. Natürlich falle ich als Fremder sofort auf. Zu Beginn eine Überraschung. „Morning has broken“. Das wunderschöne Lied des Islam-Konvertiten Cat Stevens wird in der deutschen Version gesungen. „Morgenlicht leuchtet wie rein am Anfang“. Der Pfarrer betont: „Beten hilft in unserer kaputten, zerrissenen Welt.“ Predigt und Fürbitten verlaufen ohne Höhepunkte oder Auffälligkeiten. Der Gottesdienst folgt einer braven und strengen Liturgie. Nach Abendmahl und Segen warte ich auf dem Kirchhof. Immerhin ergibt sich draußen vor der Tür ein kurzes Gespräch. Das Pfarrerpaar wirkt angespannt, distanziert, und äußerst misstrauisch. Ob es mich störe, wenn sie rauchen, fragen die Beiden. Um Gottes Willen, antworte ich, nur zu.

 

 

Wie es um das Gemeindeleben bestellt sei, beginne ich. War das heute ein normaler Sonntagsgottesdienst? Kein Lärm stört uns. Die Vögel zwitschern von den Bäumen in dieser einzigartigen Idylle weit ab von Berlin, kurz vor der polnischen Grenze. Eine Region mit blühenden Wiesen, Feldern und einem Reiher am Ortsteich. Wo beginnen, wo aufhören? Das Pfarrerpaar überlegt. Dann antwortet er: Ja, es treffe zu. Es gebe mehr Beerdigungen als Taufen. Die Gemeinde schrumpfe weiter. Sie habe sich in den letzten zwanzig Jahren nahezu halbiert. Die Jungen ziehen weg. Die Alten sterben. Die Mehrheit der Menschen interessiere religiöse Gepflogenheiten nicht mehr. Im besten Fall verhielten sie sich gleichgültig. Beide Pfarrersleute ziehen an ihren Zigaretten, blasen Rauchkringel in die Frühsommer-Luft.

Ob es stimme, was in den Medien zu lesen sei, frage ich weiter. Ob sie AfD-Pfarrer seien? Allmählich droht die Atmosphäre ungemütlich zu werden. Sie antwortet kühl: „Wir fühlen uns als Opfer einer Hexenjagd.“ Er ergänzt schmallippig: „Ich wollte nur ins Gespräch über die Gründe von Pegida kommen. Jetzt herrscht Sprachlosigkeit.“ Pause. Er: „Wir haben uns öffentlich gegen Christenverfolgung ausgesprochen. Ist das verboten? Heute stimmen mir viele zu. Wir sind nicht islamophob.“ In der Lokalzeitung hatte der Pfarrer eine Kolumne verfasst. Man solle Menschen nicht diffamieren, die bei Pegida in Dresden und anderswo mitmarschieren. Er forderte: „Nehmt einander an.“ Sie wurde Parteimitglied der AfD, um nach Protesten aus der Gemeinde wenig später wieder auszutreten.

 

 

Eine kleine Gruppe im Kirchenkreis fordert seitdem weiter Aufklärung und Dialog. Die große Mehrheit der Gemeindemitglieder jedoch schweigt. Was bleibt, sind Gerüchte, Diffamierungen und offenbar tiefe Verletzungen. Auf dem Lande kennt jeder jeden. Man trifft sich spätestens am nächsten Sonntag oder beim Dorffest. Seit über zwei Jahren schwelt der Konflikt. Gelöscht ist er nicht. Mühsam konnte im vergangenen Herbst eine gemeinsame Erklärung verabschiedet werden. Als kleinster gemeinsamer Nenner diente eine Losung über das Weltgericht aus Matthäus 25,40: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“ erklärte Luther 1520 in Wittenberg. Sind heutige Christen, die mit Pegida und AfD sympathisieren Märtyrer? Fühlen sich Pfarrer mit AfD-Nähe im Widerstand? Ausgegrenzt und diffamiert? Verfolgt von der „Politischen Korrektheit“ der Eliten und Mainstream-Medien? Merkwürdig: Diese Pfarrersleute wirken nur verstockt und misstrauisch. Was sie wirklich umtreibt, ist nicht zu erfahren. Stört sie die Ehe für alle? Reiben sie sich am gesellschaftlichen Laissez-faire? An den Folgen der Globalisierung? Am Asylrecht? An zu viel Liberalität? Herrscht zu wenig Ordnung?

Das Wort Flüchtlinge wird tunlichst vermieden. Ein Reizwort. Mit der Durchschlagskraft eines Bum-Bum-Geschosses. Über dieses Thema wollen sie auf keinen Fall reden. Jedenfalls nicht an diesem Sonntagmittag auf dem Kirchhof. Lieber ziehen sie sich zurück, deuten nur an, in diesem Lande herrsche alles, nur keine Gedankenfreiheit. Sie verstecken sich hinter ihrer stabilen Mauer aus Ängsten und Abwehr. Eine offene Kirche sieht anders aus. Was ist hier nur passiert? Die Zigarette ist aufgeraucht. Noch Fragen, signalisieren ihre Blicke. – Eigentlich ja. Ich hätte noch viele, sehr viele. Zum Beispiel, ob es sich Kirche und Gesellschaft leisten können, wenn nicht mehr miteinander geredet wird, wenn sich am Ende alle nur noch als Opfer fühlen. Wo soll das hinführen? Wer stoppt diesen Prozess? Das Pfarrerpaar vermittelt, dass für sie alles gesagt sei.

 

 

Ich verabschiede mich. Lasse an diesem Sonntag viele offene Fragen und wenig Gewissheiten zurück. Was bedeutet dieses Schweigen? Wie denkt die Mehrheit auf dem Lande wirklich? Auf welcher Seite würde Luther stehen? Braucht es eine neue Reformation? Oder ist die Kirche nach den vielen Jahrzehnten der braunen und roten Diktatur schlicht ein Auslaufmodell? Ohne Kraft, Inhalt und Ziele? Ich beschließe zurück nach Berlin zu fahren durch einen Landstrich, in dem so viele Dorfkirchen hübsch saniert sind, jedoch meistens leer stehen. Am weiten Himmel ziehen Störche ihre Kreise. Es ist friedlich und idyllisch wie in Astrid Lindgrens Kinderbüchern.

Ich gehe noch einmal über den Friedhof. Ein Mann gießt seine Eltern, wie er mir lächelnd versichert. Er nickt mir freundlich zu, signalisiert Gesprächsbereitschaft. Er sei Jahrgang 1939, mit der Kirche habe er nichts mehr zu tun. Zu den Pfarrern könne und wolle er nichts sagen. Er überlegt einen langen Moment, die Gießkanne in der Hand. Dann sagt er plötzlich: „Kennen Sie das? – Wer will haben rein sein Haus, der behalt Pfaffen und Mönche draus.“ Ist von Luther, erklärt er und lacht herzhaft. Aber dass es dieses kleine hübsche Kirchlein noch gebe, das freue ihn, sagt er noch. Das sei ein Stück Heimat, das gebe ihm Halt. Sonst sei hier doch nichts mehr. Er wünscht mir alles Gute. Ein wenig erleichtert trete ich den Heimweg an. Es ist, als ob mir die kleine Kirche mitten im märkischen Sand ein stilles Zeichen der Hoffnung mitgeben will – mehr wert als alle großen Worte und Parolen.

 

Der Text „Wo ist Luther? Ein protestantisches Sommermärchen“ erscheint in: Johann Hinrich Claussen und Stefan Rhein (Hg). Reformation 2017 – eine Bilanz. Edition Chrismon. Oktober 2017.