dessau geschichte des jugendhauses

Oh, diese Jugend! Die Klage ist so alt wie die Menschheit. Die Geschichte der Erziehung verhaltensaufälliger oder nicht angepasster Jugendlicher im Nachkriegsdeutschland der fünfziger und sechziger Jahre muss noch geschrieben werden. Gegenwärtig müht sich ein Runder Tisch um die teilweise skandalösen Verhältnisse in westdeutschen Kinder- und Jugendheimen. Erziehung durch Härte hieß das Programm. Gewaltausbrüche, Übergriffe und zerstörte Biografien waren die Folgen.

Das hatte es früher nicht gegeben! Diesen Satz kann man heute häufig hören. Verhaltensauffällige Jugendliche haben in der DDR sehr schnell die sorgende Hand des Staates zu spüren bekommen.  Ein engmaschiges Netz der Fürsorge und Sanktionen sollte Jugendliche, die auf die „schiefe Bahn geraten“ waren, wieder in die Gemeinschaft integrieren. Die Recherchen über einen vierzehnjährigen Schüler, der wegen „Republikflucht“ in das Jugendhaus Dessau eingewiesen wurde, führten zu einem verdrängten Kapitel deutscher Erziehungsmethoden in der Nachkriegszeit.

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Das Eingangstor zum „Jugendhaus Dessau“

Ein Schüler der achten Klasse hatte 1969 versucht, auf eigene Faust nach West-Berlin zu flüchten. Aus Ärger mit seinen Lehrern hatte er spontan beschlossen, Ost-Berlin in Richtung „Amerika“ zu verlassen. Er kam nicht weit und wurde  in einem stillgelegten U-Bahnhof von einer Hundestreife entdeckt. Da er sich als „uneinsichtig“ erwies, wurde er zur „Besserung“ für anderthalb Jahre in das Jugendhaus Dessau eingewiesen. Das Jugendhaus entpuppte sich als geschlossene Einrichtung, als Jugendgefängnis mit strengem Regime. Der Schüler saß anderthalb Jahre hinter Gittern, bis zum letzten Tage. Er wurde mit knapp sechzehn Jahren in die Freiheit entlassen und war ein anderer Mensch. Doch statt Besserung trat das Gegenteil ein. Die DDR hatte sich einen unerbittlichen Gegner „herangezüchtet“. Der Fall des Jugendlichen, so die Recherchen zu Dessau, ist kein Einzelfall.

Im § 75 des DDR-Strafgesetzbuches heißt es: „Einweisung in ein Jugendhaus kann angewandt werden, wenn das verletzte Gesetz Freiheitsstrafe androht, es die Schwere der Tat erfordert, die Persönlichkeit des Jugendlichen eine erhebliche soziale Fehlentwicklung offenbart und bisherige Maßnahmen der staatlichen oder gesellschaftlichen Erziehung erfolglos waren, so dass eine längere nachdrückliche erzieherische mit Freiheitsentzug verbundene Einwirkung erforderlich ist.“

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Das „Jugendhaus“ heute.

Einige Augenzeugenberichte aus dem Jugendhaus Dessau. Die Einrichtung war mit achthundert jungen Strafgefangenen chronisch überbelegt. Dessau wurde in dieser Form bis zum Wendeherbst 1989/90 geführt.

Rudolf Dertinger
“ Ich kam nach Dessau, was für mich die Hölle war.  Ich schreibe hier nur das Wort „Selbsterziehung“. Es fehlt ein Knopf an der Jacke, der Uniformierte jagte daraufhin die ganze Truppe über den Hof, die sich ihrerseits damit revanchiert, den Schuldigen halb tot zu schlagen… nicht an Ort und Stelle, sondern Stunden später im Schlafraum, in der „Blutecke“ wurden die Schuldigen bestraft, wenn das Licht gelöscht und nur der Monde durch das Fenster aus Glasbausteinen ein Auge auf die Jugendlichen warf. Da es gruppenweise Bestrafungen gab… gab es auch gruppendynamische Regulative, zum Teil anonym: der tatsächliche oder vermeintliche Täter wurde nachts im Schlafsaal von mehreren Mithäftlingen verprügelt.“

Rainer Broäter
„War keine nennenswerte Maßregelung von vorneherein zu erwarten, kam die „Achterbahn“ ins Spiel, die, wie das Wort schon andeutet, den Aufstieg in die Höhe und den Abstieg in die Tiefe bedeutet. Das Jugendhaus Dessau wurde offenbar zu dem einzigen Zweck mit Treppen ausgestattet, um eine Gruppe von 10 oder 20 Jugendlichen in der Hocke und mit vorgehaltenen Armen springend, hüpfend vom Keller unters Dach und vom Dach in den Keller und ganz gewiss an den Rand ihres physischen Vermögens, an die Schmerzgrenze und um ein wenig mehr darüber hinweg zu bringen … Die Anlässe waren so nichtig wie unheilvoll: ein nachgeschlagener Stiefel am Ende des Exerzierens auf dem Freihof, das hörbare Kratzen eines Holzbeines beim Setzen an den Mittagstisch. (…) Runde für Runde verging unter dem nervenden Gebrüll der Posten. Solange wurde gelaufen, bis die ersten wirklich nicht mehr konnten und selbst der Schlagstock keine Resultate mehr brachte. Manche hätte man totschlagen können, aber nichts bewegte sie noch mal die Treppe hoch.

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Das „Jugendhaus“ wurde Ende 1989 in der alten Form geschlossen.

Rainer Broäter
„Es gab immer wieder Versuche ins Haftkrankenhaus zu kommen, z.B. Widerhaken schlucken, Hände abstanzen.“

Heinz Seiler
„Manche sollen auch tubenweise Zahnpasta gegessen haben, um ins Krankenrevier aufgenommen zu werden.“

S. Wagner
„Immer wieder verschluckten Arrestanten Löffelstiele, um ins Krankenrevier zu kommen. Dort bekamen sie dann Sauerkraut und zerdrückte Kartoffeln, damit sie den Löffel ausschieden. Aber die natürlichen Methoden führte nur selten zum Ziel. Die meisten mussten aufgeschnitten werden. Beim Duschen bemerkte man immer wieder Jugendliche mit zehn bis zwanzig cm langen Narben am Bauch. Das waren Löffelschlucker vom Arrest.“

Im Mai 1968 erhängte sich der jugendliche Strafgefangene Manfred G. in der Zelle, Tage zuvor hatte er seine Pulsadern aufgeschnitten. Dieser Selbstmordversuch war gescheitert. G. fühlte sich zu Unrecht mit drei Tagen Arrest bestraft. Er hatte sich mit Mitgefangenen gestritten. G. war wegen versuchter Republikflucht zu sechs Monaten Jugendhaus Dessau verurteilt worden.

Heinz Seiler
„Mir schlug das irgendwie alles auf Gemüt und Magen. Ich war ja 184 cm groß und plötzlich wog ich noch 52 Kilo, den Erziehern fiel es irgendwie auf, man verbrachte mich ins Revier zumal ich ja auch keine Nahrung mehr behielt.
Zu meiner Entlassung kam ich einen Tag vorher auf die Abgangszelle. Nicht jeder hatte das Glück. Es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen, die letzte Nacht bekommt der Gefangene eine Decke über den Kopf und jeder der Anwesenden gibt ein paar Abgangsschläge darauf.“

Einen informativen Überblick über Geschichte und Schicksale im Jugendhaus Dessau gibt die Broschüre von:

Maud Rescheleit, Stefan Krippendorf:
„Der Weg ins Leben – DDR-Strafvollzug im Jugendhaus Dessau“.

Weitere Infos finden Sie unter: http://www.jugendwerkhof.info/jugendhaus/