christianstadt geschichte der munitionsfabrik

„Geheime Reichssache“: Munitionsfabrik Christianstadt 

 

Das Kerngebiet der ehemaligen größten deutschen NS-Munitionsfabrik im heutigen Polen (bis 1945 Brandenburg) ist seit Jahrzehnten militärisches Sperrgebiet. Der Zutritt ist strengstens verboten. Alle Bitten um eine Besuchserlaubnis ließen zuständige Stellen in Warschau und Brüssel unbeantwortet bzw. blieben erfolglos. Es scheint, als würde Christianstadt (Krzystkowice, Ortsteil von Nowogród Bobrzański in der Woiwodschaft Lebus/Polen) seine Geheimnisse seit dem Dritten Reich weiter pflegen wollen.

 

„Militärisches Sperrgebiet – Zutritt verboten“.

 

„Christianstadt war die größte Sprengstofffabrik, die wir in Deutschland hatten.“

Er kam mit Anfang zwanzig als junger Prüf-Ingenieur nach Christianstadt. Günter Frank, Student der Sprengstoffchemie. Von Juni 1944 bis Januar 1945 war er im Werk der Dynamit Actien-Gesellschaft (DAG), vormals Alfred Nobel & Co, für die Endkontrolle zuständig. Das Werk Christianstadt produzierte Granaten und Bomben aller Kaliber und Sprengstoff für V1 und V2-Marschkörper. Rund sechshundert dieser V1-Flügelbomben sind in seinem Verantwortungsbereich produziert worden.

Die Munitionsfabrik Christianstadt an der Bober (damals: Neumark Brandenburg) war in unzugänglichen Wäldern versteckt und „Geheime Reichssache“. Das über 1.500 Hektar große Gelände liegt im heutigen Nowogród Bobrzański in Polen. Nach wie vor ist der innere Bereich militärisches Sperrgebiet. Vermutlich befindet sich hier heute ein Geheimobjekt der US-Streitkäfte.

Nach dem II. Weltkrieg musste Günter Frank im Raum Spremberg Granaten, Sprengstoff und über 130 Panzer und Geschütze entschärfen. Ein Himmelfahrtskommando. „Mindestens fünf Mal“ habe er dem Tod in die Augen gesehen. Bis zum Ende der DDR war der  Ingenieur aus der Lausitz zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet.

 

Munitionsfabrik Christianstadt. Äußerer Ring. Insgesamt 76 Kilometer Bahngleise. Zwei Kraftwerke. Zwei Wasserwerke. 1.500 Hektar Sperrgebiet.

 

Herr Frank, es gibt viele Geheimnisse um Christianstadt. Was genau geschah im Dezember 1944 in der Munitionsfabrik?

Günter Frank

„Ich war an dem Tag im Werk und da passierte folgendes: Das Fließband, da gab es einen Bruch, der geschweißt werden musste. Die Fertigung wurde unterbrochen. Die Schweißkolonne wurde angefordert, kam auch sehr kurzfristig ins Werk. Es wurden Bomben auf der zu prüfenden Seite nach rechts ausgesondert. Die auf der rechten Seite lagen wurden bis zum Einsetzen der Zündladungen weiter fertig gestellt. Zu dem Zeitpunkt bin ich aus dem Werk weg gegangen, weil ein Anruf kam, ich möchte zur Entlaborierung der 3,7-Flakgeschosse kommen. Die Anlage war etwa drei Kilometer entfernt.

Ich fuhr dorthin mit dem Fahrrad, andere Mittel durften im Werk nicht genutzt werden. Ich war gerade in die Tür eingetreten, um mich beim Meister anzumelden, dass ich hier bin und wir die Probleme lösen werden, da gab’s eine Riesendetonation. Das war Gott sei Dank, dass ich in Richtung Osten gefahren bin, die Ausblasrichtung an allen Einrichtungen war in Richtung Westen, so dass der Westen keine Gebäudekomplexe stehen hatte. Die Druckwelle ging also nach Westen. Und ich flog in Richtung Osten durch die Tür und wurde folgend ärztlich versorgt. Ich hatte eine Schulterverletzung und vor 66 Jahren stellte man fest, dass auch der Arm gebrochen war.

Aber ich ging dann erst mal dorthin, um zu sehen, was war passiert. Und es war erschreckend, was ich dort sehen musste. Es war so gravierend, dass 155 Tonnen Sprengstoff in die Luft geflogen sind. Diese 155 Tonnen hatten die gesamte Anlage zerstört, hatten die Füllstelle und die Stelle, wo der Sprengstoff vorbereitet wurde, er musste auf achtzig Grad erhitzt werden, damit er flüssig wurde und der Füllung eingeleitet werden konnte und in die Bomben oder in die V1-Geschosse, einfüllen konnte. Die Füllstelle war weg, war nicht mehr da. Die Verladerampe war vollkommen nicht mehr da. Die Gebäudekomplexe waren nicht mehr da und alle Leute waren leider auch nicht mehr da. Es war alles zerstört.

Die Druckwelle war so stark, dass der davor stehende Wald – etwa zwanzig Jahre alt – bis auf etwa fünfhundert Meter vollständig abrasiert war. Es war keine Nadel, kein Ast, kein Baumstamm mehr zu sehen. Das war auch eigenartig, das habe ich das erste Mal gesehen. Ich habe das im Studium gelehrt bekommen und auch gesagt bekommen, wie sich so etwas verhält. Wenn eine Bombe einschlägt, dann wird seitlich das Erdreich aufgeschüttet.

In dem Fall war keine Aufschüttung da, es waren tausend Quadratmeter Erdreich ausgehoben bis zu einer Tiefe von sechs Metern. Es war aber kein Meter, Kubikmeter Erdreich vorhanden. Es war alles in die Atmosphäre geblasen worden, aufgrund dieser schweren Detonation. Das heißt, dass die Druckwelle 8.000 Meter-Sekunden erreicht hatte. Die reichte aus, um die kosmischen Geschwindigkeiten zu erreichen, um also aus der Erdanziehung heraus zu kommen. Und das war einmalig, das hat es bisher in keinem Sprengwerk bei einer Detonation gegeben, dass eine so gewaltige Sprengung eingetreten war innerhalb einer 1/ 1000 Sek bei einer Temperatur von 4.000 °C.

 

Günter Frank (1922-2014) Prüfingenieur in Christianstadt beim Interview im Februar 2012.

 

Wie viele Menschen kamen zu Schaden?

Günter Frank

Ich schätze, dass etwa bis zu zweihundert Menschen verletzt wurden. Ca. sechzig wurden getötet. Es gab nur im engen Kreis eine Beerdigung. Es wurde auch ein Stein auf dem Friedhof errichtet aber als ich vor dreißig Jahren das erste Mal in Christianstadt war, ging ich auf den Friedhof, um dort einen Strauß niederzulegen. Die Grabstelle war nicht mehr da und auch der Stein war nicht mehr da. Und das ist bis zum heutigen Tage so.

Es gibt viele Geheimnisse um Christianstadt. Es gibt Dinge, die man bis heute nicht richtig weiß oder die auch vielleicht falsch dargestellt wurden oder auch bis heute geheim gehalten werden. Es war eine geheime Reichssache. Sie durften zu Kriegszeiten nicht darüber reden.

Günter Frank

Wir durften über nichts sprechen. Wir durften uns nichts aufschreiben, es war grundsätzlich verboten. Wir mussten auch Gefahr laufen, dass in unserem Quartier kontrolliert wird, ob irgendetwas notiert ist, ob dort irgendwelche Unterlagen liegen. Es war einfach nicht machbar. Wir durften nicht fotografieren. Ich hätte gern Aufnahmen gehabt von vielen Dingen – einfach nicht möglich. Im Übrigen durfte ich auch zu DDR-Zeiten über meine Zeit in Christianstadt nicht sprechen.

Was war denn mit V1, V2 und V3-Waffen?

Günter Frank

Die V1 war nur in den Sprengstoffteilen da, die V2 auch nur. Es gab keine Fertigmontage bei uns. Sondern die Sprengkörper wurden so mit der Bahn transportiert, in dem Fall unter anderem nach Usedom, um zur Fertigmontage dort die Geschosse für die V1-Waffen fertig zu stellen. Bei der V3 bekam ich nachts einen Anruf, ich wusste noch nicht, weshalb ich dorthin kommen soll, wurde gebeten zum Werkstor Ost zu kommen, was ich befolgte.

Dort stand ein Büssing-LKW, plombiert. Die Plomben öffnete ich. Es kam ein riesengroßer Teller zum Vorschein, als wenn man zwei Untertassen zusammen stellt, aber hundertfach vergrößert und in der Mitte eine Bohrung von 90 cm. Der wurde entladen, wurde mit Sprengstoff gefüllt. In diese V3 gingen 1,5 Tonnen Sprengstoff rein. Das Eigengewicht von Sprengstoff lag bei einer Wichte von 1,5,  dann waren das praktisch fast fünf Tonnen mit dem Metallgewicht der Bombe. Ich habe das damals zum Anfang mit „fliegenden Untertassen“ bezeichnet, aber kurze Zeit später wusste ich, dass das die V3 war und es gab vor einiger Zeit eine Sendung im Fernsehen, wo über diese V3 berichtet wurde und die Aufnahmen, die dort gezeigt wurden, aber auch nur in Form einer Zeichnung, waren ganz genau identisch mit dem, was ich in dieser Nacht gesehen habe.

Können Sie sich erinnern, wann war diese Nacht?

Günter Frank

Das war Anfang Oktober 44.

Und die V3 wurde noch in Christianstadt produziert?

Günter Frank

Nein, die wurde nicht produziert. Die wurde in Polen produziert, die Waffe, aber sie kam nicht zum Einsatz. Versuchsweise ja, aber im Kriegseinsatz war sie nicht.

 

Christianstadt. Produktionshalle. Äußerer Ring. Aufnahme von 2010.

 

Sind denn im Zusammenhang mit der Atombombe in Christianstadt  Forschungen angestellt wurden? Sind Versuche gemacht wurden?

Günter Frank

Ich weiß es nicht. Also gehört habe ich nichts und gesehen habe ich in der Richtung bei uns auch nichts.

Wie war das mit den Zwangsarbeitern? Sind Sie in den Lagern gewesen? Haben Sie die Menschen gesehen?

Günter Frank

Nein, ich war in keinem Komplex in diesem unteren Bereich gewesen und habe keine Zwangsarbeiter gesehen, auch keine Frauen.

Haben Sie mal davon gehört? Hat man darüber gesprochen?

Günter Frank

Wir haben uns über diese Fragen überhaupt nicht unterhalten, weil man nicht wusste, wer ist das Gegenüber, was kann man sagen, was darf man nicht sagen.

Es sollen bis zu 25.000 Zwangsarbeiter in Christianstadt gearbeitet haben?

Günter Frank

Das ist unwahrscheinlich, dass diese Größenordnung dort vorhanden gewesen ist. Wir haben damals anfangs von 12.000 gesprochen, dann von 22.000, aber über die Zahl 22.000 sind wir nicht hinweg gekommen.

Also 22.000 halten Sie für plausibel?

Günter Frank

Habe ich in meiner Erinnerung und halte ich eventuell für vertretbar, zur Größenordnung.

 

Dreharbeiten für ZDF-Doku „Christianstadt“ (2010)

 

Kann man sagen, dass Christianstadt eine der größten Munitionsfabriken…

Günter Frank

Das war die größte Sprengstofffabrik, die wir in Deutschland hatten. Ganz eindeutig.

Im Januar 45 wurde die Lage ernst. Es kam dann eine Polizeibrigade aus Dresden, um Christianstadt zu verteidigen. Wie haben Sie die letzten Tage erlebt?

Günter Frank

Ich bin am 20. Januar aus Christianstadt weg, weil ich den Auftrag hatte nach Klietz (Sachsen-Anhalt) zu fahren, so dass ich diesen Zeitraum nicht erlebt habe, wo diese Polizeieinheit oder SS-Einheit gekommen ist.

Bis heute ist das Werk Sperrgebiet. Es wird durch Nato-Stacheldraht und die polnische Armee gesichert. Zutritt verboten.

Günter Frank

Das ist genau das Sperrgebiet, wo wir gewesen sind.

Das war Ihr Arbeitsplatz?

Günter Frank

Das war mein Arbeitsplatz, aber ein Teil der Gebäudekomplexe ist bei der Detonation zerstört worden. Das heißt, es blieb kein Stein da. Die 1,5 Meter starken Betonwände waren einfach nicht mehr da, es waren auch keine Sprengstoffteile oder Betonteile zu sehen, die waren alle in der Atmosphäre verschwunden.“

 

Das Gespräch mit Ingenieur Günter Frank führte ich im Februar 2012. Günter Frank ist mittlerweile verstorben. (2023)

 

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Der äußere Bereich des früheren Werksgeländes in Christianstadt ist zugänglich.

 

Einige Anmerkungen zum „Chemischen Werk“ Christianstadt

Im Sommer 1939, kurz vor Kriegsausbruch, begann das Heereswaffenamt die modernste Munitionsfabrik Europas zu errichten. Sie erhielt den Tarnnamen „Ulme“. In Rekordzeit entstanden 820 Gebäude, elf Zwangsarbeiterlager für rund 20.000 Arbeiter. Die „Fabrik Christianstadt“, so der harmlose Name, war eine streng geheime, hoch explosive Welt, drei bis vier Mal so groß wie Peenemünde. Das Werksgelände umfasste 102 Kilometer Betonstraßen und 76 Kilometer Bahngleise.

Die Rüstungsfabrik der IG Farben verfügte über fünf pyramidengroße Methanolbunker und riesige verzweigte, unterirdische Bunkersysteme. Dazu mehrere Säurespaltanlagen, zwei Kraftwerke zwei Wasserwerke. Eine Kommandantur, ein Bordell, Werksfeuerwehren und unzählige Sprengstoffbunker. „Im Wald ist ständiges Brummen zu hören“, berichteten Anwohner.

Am Bau waren viele namhafte deutsche Firmen beteiligt. Der polnische Hobby-Historiker Stefan Jasinski hat im Laufe der letzten Jahre zahlreiche Informationen zusammengetragen. Er recherchierte, dass von der Firma Siemens Bauunion über den Baukonzern Hochtief bis zur Dynamit AG, der deutschen Rechtsnachfolgerin der Alfred Nobel AG, viele deutsche Unternehmen im Wald von Christianstadt produzierten. Streng geheim.

 

Lagerausweis Karel Fucik. Fabrik Christianstadt. 1942.

 

Die Sprengstofffabrik war „Staatsgeheimnis im Sinne des § 88 Reichsstrafgesetzbuch“. Auf Geheimnisverrat stand die Todesstrafe. So ist zu erklären, dass in den Bundesarchiven in Koblenz und Berlin-Lichterfelde keine einzige Original-Aufnahme zu finden sind. Die Spuren sind verwischt.

Die Munitionsfabrik war kein Vernichtungslager. Die Frauen mussten Granaten aller Art mit Sprengstoff verfüllen und pausenlos Bomben für den Endsieg produzieren. 1943 startete die eigentliche Sprengstoff-Produktion, im August 1944 erreichte sie ihren Höhepunkt. In Christianstadt wurde die Hälfte des gesamten Hexogenbestandes des Dritten Reiches hergestellt. Hexogen ist ein Ersatzstoff für TNT, nur 2,25 Mal explosiver.  Der Rüstungsbetrieb war das Modernste, was es damals gab.

Es gibt bis heute viele Rätsel um Christianstadt. Die Verantwortlichen haben ihr Wissen mit ins Grab genommen. Konstruktionspläne sind verschwunden. Umstritten ist, ob hier mehr als Sprengstoff für V1- und V2-Raketen produziert wurde. Ist an chemischen Waffen geforscht worden oder gar an der Atombombe? Der frühere polnische Offizier Stefan Jasinski meint, es gebe mehr Fragen als Antworten. Ein weiteres Geheimnis bleibt, warum die Alliierten die Fabrik als kriegswichtiges Ziel erfasst und fotografiert, vielfach überflogen, gleichwohl nie angegriffen haben.

Anfang Februar 1945 rückte die Rote Armee auf Christianstadt vor. Eine deutsche Spezialeinheit, die Polizeibrigade Wirth, verteidigte die Munitionsfabrik eine Woche lang unter größten Verlusten. Das kleine Städtchen an der Bober wechselte fünfmal den Besitzer. Brisantes Material der Rüstungsfabrik sollte offenbar in letzter Minute vor den Sowjets in Sicherheit gebracht werden. Bei den erbitterten Kämpfen ging das alte Städtchen Christianstadt selbst unwiderruflich unter.

Weitere Informationen: Martina Löbner. „Geheime Reichssache“ Christianstadt: das Ende einer Kleinstadt zwischen Oder und Neiße sowie der Sprengstoff-Fabrik „Ulme“.  Promotion. 2002.

Der polnische Historiker Miłosz Grobelny hat 2013 seine Promotionsarbeit über Christianstadt veröffentlicht.

 

Es gab ein Lagerorchester in Christianstadt. Verfasser unbekannt.