LEIPZIGER VOLKSZEITUNG
Kein ganz normales Land
In der Talk-Nacht in der LVZ-Kuppelhalle diskutieren neun Autoren über Deutschland
Deutschland ist das beliebteste Land der Welt. So lautet die Eingangsthese zur doppelten „Deutschstunde“ am Donnerstagabend in der Kuppelhalle der LVZ, bei der Gemeinschaftsveranstaltung mit ZDF aspekte, Deutschlandfunk und Club Bertelsmann. Neun Gäste nehmen das Selbstverständnis der Deutschen unter die Lupe – zwischen historischem Schuldrucksack, Sommermärchen-Leichtigkeit und „German Angst“.
Von DIMO RIESS
Es ist das Ergebnis eine Umfrage der BBC, die Aspekte-Moderator Christhard Läpple zu Beginn der ersten Talk-Runde mit Henryk M. Broder, Lena Gorelik, Halldór Gudmundsson, Inge Kloepfer und Cornelius Weiss aus dem Hut zaubert. Deutschland ist das beliebteste Volk der Welt. An der Belastbarkeit solcher Erhebungen darf gezweifelt werden. Wichtiger sind die Reaktionen: Innen- und Außensicht divergieren. Journalistin Inge Kloepfer, die im Ausland ihre Herkunft gern verschleiert, zeigt sich überrascht.
Halldór Gudmundsson hingegen, isländischer Schriftsteller und Verleger, wundert sich über das Ansehen der inzwischen „sehr relaxten“ Deutschen gar nicht. Zwischen diesen Sichtweisen spannt sich die Diskussion auf, und es fallen die erwartbaren Begriffe wie Ordnung, Verschlossenheit und Planungssicherheit. Ob diese Charakterisierungen nun fortgelten (die in Russland geborene Schriftstellerin Lena Gorelik kam als Kind nach Deutschland und empfand die Menschen als verschlossen) oder über Bord geworfen werden mit einer „Italienisierung“ der Lebensart, wie sie später Thea Dorn diagnostiziert und Freude am Risiko, das Broder an den Börsen erkennt. „Die Deutschen sind ein Volk von Zockern geworden.“
Es fällt dabei zweierlei auf: Eine neue Leichtigkeit glaubt man sich selbst nicht, weshalb auch an diesem Abend der langsam vergilbende Beweis Fußball-WM 2006 bemüht wird. Und: Früher oder später landet die Debatte bei dem Begriff „Stolz“. Spätestens dann ist es mit der Leichtigkeit endgültig vorbei. Gorelik: „Wir sind die einzige Nation, die darüber diskutiert.“ Gudmundsson hält Stolz auf die Heimat für normal, würde Deutschland eine Normalität in dieser Hinsicht gönnen. Cornelius Weiss, einst Rektor der Universität Leipzig, rückt das zurecht: „Sie haben auch nie Island, Island über alles gesungen.“
Deshalb sucht die jüngere Generation weiterhin nach differenzierten Antworten. Kloepfer zitiert ihre Tochter, die stolz sei, dass bei 80 Prozent der Schüler ihres Charlottenburger Gymnasiums zu Hause noch eine zweite Sprache gesprochen wird. „Dann ist sie stolz, sich selbst abzuschaffen“, folgert Broder, der damit die verbale Strickleiter zu Thilo Sarrazin herablässt – und kaum Widerspruch erntet.
Da streift, wie könnte es in der Folge des Wulff-Rücktritts anders sein, die Diskussion auch die politische Führungsebene zwischen Volkskammerwahl am 18. März 1990 und Bundesversammlung am 18. März 2012. Mit Gauck und Merkel werden dann zwei Ostdeutsche höchste Führungsämter bekleiden. Was, so Broder, von den westdeutschen Eliten als Kränkung empfunden werde. Ein wenig Triumphgefühl schwingt mit im Raum. Verständlich. Nur kommt niemand auf die Idee, den politischen Vorgang fast 22 Jahre nach der Wiedervereinigung als selbstverständlich zu begreifen. Es ist eben doch noch ein wenig hin zu der Normalität, die Gudmundsson den Deutschen gönnen würde.
Hatte nicht viel mit dem zu tun, was man aus der Schule kennt: Die doppelte Deutschstunde in der Kuppelhalle der LVZ.