Leben und Struktur
„Am Kanal entlangspaziert auf der Suche nach einem guten Ort. Unter der Fennbrücke steht eine kleine Bank, dahinter ein schmaler Streifen mit Geländer zum Nordhafen. Ich sitze Probe auf der Kante, fühle mich aber nicht ganz wohl“, notiert Bestsellerautor Wolfgang Herrndorf am 22. Oktober 2012 um 21.15 Uhr in seinem Blog „Struktur und Arbeit“. Und weiter:
„Man sitzt beengt, und mit meiner defizitären Motorik, fürchte ich, könnte ich bei Schnee und Eis (ich sterbe im Winter, denke ich) abrutschen, bevor ich Zeit zum Zielen gehabt hätte. Schön die leichte Strömung, die Herbstlaub und tote Körper nach Westen treibt“.
Zehn Monate später am 26. August 2013 gegen Mitternacht beendet Herrndorf das Wüten des Tumors in seinem Hirn mit einer 9mm-Kugel in den Kopf . Der Schriftsteller wurde 48 Jahre alt.
Jetzt zeigt das Literaturhaus Berlin bislang unbekannte Zeichnungen, Bilder und Karikaturen aus Herrndorfs Nachlass. In den neunziger Jahren hatte der genaue und sensible Autor nach einem Kunststudium in Nürnberg mit großer Sorgfalt für die Titanic und den Tagesspiegel gezeichnet. Ein Brotjob. Irgendwie musste die Miete ja reinkommen. Er fühlte sich Spitzwegs Armen Poeten sehr nahe.
Anfang des 21. Jahrhunderts gab Herrndorf die Malerei auf und widmete sich mit gleicher Präzision und Liebe zum Detail der Schriftstellerei. Seinem Debüt „In Plüschgewittern“ folgten die Erfolgstitel „Tschick“ und „Sand“. Der Rest ist so traurig wie bekannt. Im Februar 2010 übernimmt ein unheilbarer Gehirntumor das Drehbuch seines Lebens. Je erfolgreicher er wird desto verzweifelter seine Lage. Herrndorf schildert in seinem Tagebuch „Arbeit und Struktur“ beklemmend und ohne jedes falsches Pathos den Countdown bis zu seinem selbstbestimmten Ende am Kanal. „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“
„Wolfgang Herrndorf: Bilder“. Bis 16. August 2015 im Literaturhaus Berlin.