Ach, Europa
Ach, das sind dreißigstellige Kontonummern und kleinkarierte Gurken-Verordnungen. Ein bürokratisches Monster, überreguliert und handlungsunfähig. Ein Riese, dem die Kräfte schwinden. Für Vordenker Hans Magnus Enzensberger steht schon länger fest: Das „Brüssel-Europa“ wird am Eigensinn der Nationen scheitern. Behält er am Ende Recht? Zerbricht das EU-Europa an Gleichgültigkeit oder gar an Gewalt?
Längst ist der alte Kontinent im Dauer-Krisenmodus. Die Briten stimmen in diesem Jahr über einen möglichen EU-Austritt ab. Ungarn und Polen überbieten sich an nationalen Aufwallungen und schotten sich weiter ab. Im Süden stöhnen Italiener und Spanier über Schulden und Wirtschaftskrise, kämpfen Griechen trotz drei milliardenschwerer Rettungspakete ums Überleben. Im Norden schließen die Dänen Grenzen und wollen immer mehr Finnen den Euro abschaffen. Und alle – von Helsinki bis Lampedusa stöhnen über Flüchtlinge. Aufnehmen soll sie – wenn überhaupt – nur der Nachbar.
Droht ein böses Erwachen? Schreitet Geschichte nicht mehr in mühsamen aber unumkehrbaren Schritten voran – einer besseren Zukunft entgegen? Scheitert das Projekt der Vereinigten Staaten von Europa an Vorurteilen und nationalen Egoismen? Ist der alles entscheidende Wille zu Ausgleich und Kompromiss verloren gegangen? Folgt man den vielen Kassandra-Rufern in Politik und Medien, könnte man es fast glauben.
Gegen Apathie und geistigen Durchfall hilft ein kurzer Blick in alte Texte, die plötzlich brennend aktuell werden. Erich Kästner schrieb über den I. Weltkrieg vor hundert Jahren: „Der Tod setzte den Helm auf. Der Krieg griff zur Fackel. Die apokalyptischen Reiter holten ihre Pferde aus dem Stall. Und das Schicksal trat mit dem Stiefel in den Ameisenhaufen Europa.“ Kästner und viele andere träumten auf den Schlachtfeldern den Traum eines geeinten und friedlichen Europas. Erst nach dem II. Weltkrieg wurde dieser Wunsch Wirklichkeit. Und heute?
Es gibt einiges zu tun in diesem neuen Jahr.