Wer Angst vor dem Schwarzen Mann?
Im Schützenverein Eberswalde war er wer. Den alljährlichen Höhepunkt, das „Vogelschießen“ auf eine Schwanzfeder, verpasste er nie. Gert Schramm gehörte stets zu den Favoriten. Treffsicher, gradlinig, ohne großen Firlefanz. So wurde er der erste farbige Schützenkönig von Brandenburg. Mitten im Land des Roten Adlers. Jetzt ist er abgetreten. Der Verlag Aufbau teilte mit, Schramm sei vor einigen Tagen im Alter von 87 Jahren verstorben.
An die Oder, Deutschlands östlichstem Punkt, hatte sich Gert Schramm die letzten Jahre zurückgezogen. Mit Hund Moritz, den er liebte, und einer Hautfarbe, die er nicht ablegen konnte. Das war sein Schicksal: er fühlte sich wie alle anderen und blieb doch die große Ausnahme. Das Licht der Welt erblickt er 1928 in Erfurt. Sein Vater ist ein farbiger Amerikaner auf Montage, seine Mutter stammt aus Thüringen. Schon als Kind drangsalieren ihn die Nazis. Bereits mit 13 Jahren, wird der „Negermischling“, wie es amtlich heißt, „sonderbehandelt“, um möglichen schädlichen Einfluss auf Altersgenossen zu verhindern.
Die Gestapo interniert Gert im Jahre 1943. Ein Jahr später stecken ihn die Nazis ins Konzentrationslager. Block 42. Mit fünfzehn Jahren ist er der erste und einzige deutsche Schwarze in Buchenwald. Sie tätowieren ihm die Häftlingsnummer 49489 ein. „Mein Vater kam bereits 1941 nach Auschwitz, gilt als verschollen“, erzählte Schramm später, „meine Mutter musste in den Arbeitsdienst.“ Gert überlebte, weil ihn der Blockälteste vor der SS und der Zwangsarbeit im Steinbruch versteckte. Das vergass er nie und sagte es laut und deutlich. „Das waren die Kommunisten, die mich gerettet haben. Sonst wäre ich nicht mehr hier.“
Im April 45 befreien die Amerikaner den Jungen. Deutschland ist ruiniert. Aber es beginnt eine neue Zeit. Gert Schramm will eigentlich Autoschlosser werden. Zunächst arbeitet er für die Amerikaner, dann für die Sowjets – jeweils in den Effektenkammern der beiden Armeen. Der entlassene KZ-Häftling glaubt an den Sozialismus, sein Projekt heißt DDR. Er schuftet bei der Wismut im Erzgebirge als Kumpel unter Tage. Gert buddelt Uran aus – für die Besatzungsmacht aus der Sowjetunion. Sechs Tage die Woche – unter schwersten körperlichen Bedingungen.
Ein entbehrungsreiches Leben. Dennoch: Gert Schramm ist zuversichtlich. Er gründet eine Familie und die Gewerkschaft schickt ihn als Delegierten in die Hauptstadt. In Ost-Berlin erlebt er als Augenzeuge die Junitage 1953 mit Streiks, Unruhen, Schüssen und Panzern. Nur drei Jahre später schliesst sich Schramm dem grossen Flüchtlingsstrom gen Westen an. Er versucht sein Glück in Essen – wieder als Bergmann. Diesmal baut er Steinkohle ab. Die Arbeit ist nicht leichter, aber die Schramms können sich im Wirtschaftswunderland-West mehr leisten und kaufen. Und so bemerken sie kaum, dass die nahe Heimat, aus der sie kommen, unerreichbar fern wird.
Mauerbau 1961. Der Kalte Krieg zeigt mitten durch Deutschland sein wahres Gesicht. Doch das Heimweh ist stärker als Mauern. Die Schramm´s wollen in ihre alte Heimat zurück. 1964 trifft die Bergarbeiter-Familie aus Essen in der DDR ein. Die Stasi bleibt misstrauisch. Wochenlang werden Gert und seine Frau in einem Auffanglager interniert und auf Herz und Nieren überprüft. Familie Schramm verschlägt es schließlich nach Eberswalde. Gert findet Arbeit im Verkehrskombinat.
In den bleiernen achtziger Jahren der DDR fühlt er sich mit Mitte fünfzig zu jung für´s Nichtstun. Er besitzt einen Wolga und schmiedet einen Plan: eine private Taxi-Lizenz. Gert Schramm wird Unternehmer und fährt so in die neue Zeit. Von der Plan- in die Marktwirtschaft, vom Wolga zum Mercedes, von der DDR in die Bundesrepublik. Typisch Schramm! Er wird zweiter Präsident der Taxi-Innung Berlin-Brandenburg, doch in den neunziger Jahren im neuen Einheits-Deutschland ändert sich noch mehr: das Klima wird rauer, eine dunkle Hautfarbe zur Gefahr. In seiner Heimatstadt Eberswalde wird nach der Wende der dunkelhäutige Amadeo Antonio einfach tot geprügelt.
Aber einer wie Gert Schramm lässt sich nicht einschüchtern. Er ist stolz ein Deutscher zu sein, betont er und sagt es jedem, der es hören will oder auch nicht. Am wohlsten fühlt er sich im Kreise seiner Kameraden. Ob im Schützenverein oder bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ob als ehrenamtlicher Arbeitsrichter oder viel gefragter Zeitzeuge in Schulen. Gert Schramm ist immer für andere da. Für sein unermüdliches Engagement erhält er im April 2014 das Bundesverdienstkreuz.
„Aufgeben ist nicht“, sagte er einmal zu mir und lächelte vielsagend. Vor einigen Jahren erschien im Berliner Aufbau-Verlag seine Geschichte. Der Titel? Er passt zu ihm. „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann. Mein Leben in Deutschland“. Das Buch ist vergriffen. Eine neue Auflage gibt es nicht mehr. Aber vielleicht ist sein Lebenswerk noch im Antiquariat zu erhalten. Lesenswert ist seine Geschichte auf alle Fälle und so spannend wie das ganze Leben von Gert Schramm. Überlebender von Buchenwald und Schützenkönig in Eberswalde.