Maos mächtiger Schatten am Horizont
In diesen Tagen besucht Angela Merkel mit großem Gefolge China. Es geht um Big Business, Börsenwerte und neue ökonomische Partnerschaften. Handel und Wandel auf hohem Niveau. Im Riesenreich jedoch wächst die Zahl der Abgehängten, Enttäuschten und Zurückgebliebenen. Immer mehr Chinesen träumen von alten Zeiten. Von mehr Gerechtigkeit, einer verlässlichen Macht und vor allem von Mao. Selbst junge Volksrepublik-Chinesen verehren den Führer des Großen Marsches und der Kulturrevolution. Es gibt eine anhaltende Sehnsucht nach der Ära der Kulturrevolution, schreibt die South China Morning Post, eine liberale Zeitung aus Hongkong.
Was ist los im Reich der Mitte? Zurück in eine Zeit der Finsternis, in der im Namen der Revolution über 1.7 Millionen Menschen eines unnatürlichen Todes starben, wie selbst offizielle Statistiken einräumen? Vor genau fünfzig Jahren brachen junge Rotgardisten auf, um Zaudernde, Zweifelnde und Gegner auf den richtigen Weg zu bringen. Wer nicht spurte, bekam die Macht von Maos Fußvolk zu spüren. Und heute? „Ich vermisse die unbedingte Hingabe an die Revolution. Ich vermisse Gleichheit und Brüderlichkeit zwischen den Menschen“, sagt Zhou Jiayu, ein ehemaliger Rotgardist. Heute ist der 71jährige einer der vielen frustrierten Rentner.
Aber auch junge Chinesen sympathisieren offen mit Maos Kulturrevolution vor fünfzig Jahren. Li Bifeng ist heute 38 Jahre alt. Der Absolvent der London School of Economics gehört zur Smartphone-Generation. Er begeistert sich für Maos Traum einer egalitären Gesellschaft. Li sagt: „Ich habe begriffen, was wichtiger ist als Wissen, nämlich Haltung und Verständnis. Für wen schlägt dein Herz mehr? Für die Mächtigen und Reichen oder die schikanierten und gefährdeten Menschen?“ Die Kinder der Globalisierung sehnen sich nach einer neuen Kulturrevolution.
Besonders Ex-Parteisekretär Bo Xiliai aus Chinas 27-Millionen-Megastadt Chongqing gilt unter Demonstranten und auf Meetings in den Provinzen als Held. Bo wurde 2012 aus dem Amt entfernt, weil er – so die Lesart – die Kreise der mächtigen Kader zu sehr gestört habe. Er hatte sich für niedrige Mieten eingesetzt, überhaupt für eine Sozialpolitik, die den Namen verdient. Und der missliebige Parteisekretär förderte die Wiederbelebung alter Kampflieder aus Maos Zeiten. Das kommt bis heute gut an. Im Mai dieses Jahres, schreibt die South China Morning Post, wurde in der Großen Halle des Volkes in Peking ein Revolutionslied frenetisch gefeiert. Es heisst: „Segeln durch stürmische See hängt vom Steuermann ab“.
So erleben Nostalgiker in China derzeit ein grosses Comeback, egal ob sie jung oder alt sind. Angetrieben durch alltägliche Erfahrungen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit träumen sie von einer „guten, alten Zeit“, für die der Große Führer Mao steht. Und sie reden nicht mehr über Prada, sondern vom Proletariat. Sie sehnen sich nicht mehr nach McDonalds, Max Mara oder Mercedes, sondern bewundern Mao Tse Tung. Als wäre von fünfzig Jahren nichts gewesen. Wiederholt sich Geschichte?