Der Augen-Blick

Paris 1950. Das US-Magazin LIFE bestellte eine Reportage zum Thema „Verliebte in Paris“. Ein lukrativer Job. Der Fotograf Robert Doisneau zog los, um seine Heimatstadt für amerikanischen Leser auftragsgemäß einzufangen. Er entschied sich für ein junges verliebtes Paar mitten in der Menge, direkt vor dem Rathaus der französischen Hauptstadt. Dieser stürmische Kuss machte Karriere. Die Momentaufnahme verzauberte die Welt. Schlicht, in Schwarz-Weiß aber voller Hingabe. Ein Jahrhundertbild.

Vive l´amour. 1986 erlebte das Foto vom küssenden Paar ein weltweites Comeback. Es wurde wieder entdeckt, erschien in Magazinen und auf Postern. Mehrere Passanten meinten, sich auf dem Foto wiederzuerkennen. Sie verklagten Fotograf Doisneau auf Tantiemen. Doisneau weigerte sich. Erfolgreich. Denn er hatte dem Zufall nachgeholfen. Das Foto war mit zwei Pariser Schauspielstudenten inszeniert worden. Françoise Bornet und ihr Freund Jacques Carteaud erhielten für den Kuss sogar ein kleines Honorar. 2005, zehn Jahre nach dem Tod Doisneaus  wurde seine Rolleiflex-Aufnahme für 155.000 Euro an einen unbekannten Schweizer Sammler versteigert.

 

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„Un regard oblique, 1948.“ Quelle: Atelier Robert Doisneau, 2016.

 

Der Kuss war eine Ausnahme. Normalerweise inszenierte das Leben Doisneaus Arbeit. Der Alltag der kleinen Leute von Paris, das war sein Metier. Er fotografierte Naheliegendes und Abseitiges. Vor, während und nach dem II. Weltkrieg. So porträtierte er seine Sicht von Paris: Einfache Arbeiter und Handwerker. Tänzerinnen und Nachtschwärmer, Stadtstreicher und Straßenjungen, Einsame und Liebespärchen. In den Cafés, auf den Straßen oder in Vorortzügen. „Meine Fotos gefallen den Leuten, weil sie darin wiedererkennen, was sie sehen würden, wenn sie aufhören würden sich abzuhetzen. Wenn sie sich Zeit nehmen würden, um die Stadt zu genießen…“

 

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Quelle: Atelier Robert Doisneau, 2016

 

So durchwanderte er die Straßen der französischen Metropole. Über 350.000 Aufnahmen entstanden in fünf Jahrzehnten. Doisneaus Chronik eines steten Wandels und der doch immer ähnlichen Sehnsüchte. Das Streben nach dem kleinen und großen Glück. Festgehalten in Momenten, die Menschen verändern, überraschen oder in Bann halten. “Die Wunder des täglichen Lebens sind so spannend; kein Regisseur der Welt könnte das Unerwartete, das man auf der Straße findet, arrangieren”.

 
Längst zählen seine Arbeiten zum Besten der humanistischen Fotografie. Es zeigt, dass sich der genaue Blick doch lohnt. Beim Fotografieren und beim Betrachten. So entstehen statt hektischer Selfies zeitlose magische Momente. Liebevoll und geduldig verwandeln sich Anekdoten auf subtile Weise in einzelne Geschichten, die sich jeder selbst neu zusammensetzen kann. Der Standort im Schaufenster eines Antiquitätenhändlers war sicher kein Zufall, aber wie Doisneau den flüchtigen Augenblick der Voyeure festhält, erzählt viel von seiner Vorliebe für Humor, Details, Respekt und Zärtlichkeit.

 

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Quelle: Atelier Robert Doisneau, 2016

 

Unter dem Titel „Robert Doisneau – Fotografien. Vom Handwerk zur Kunst“ ist dem 1994 gestorbenen Pariser Fotografen eine große Retrospektive im Martin-Gropius-Bau Berlin gewidmet. Vom 9. Dezember 2016 bis 5. März 2017. Öffnungszeiten Mittwoch bis Montag 10:00–19:00 Uhr.

 

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Robert Doisneau. (1912-1994) Eine Aufnahme aus dem Jahre 1992.

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