So viel Nähe: Muss das sein?
So dramatisch wie im Kino oder in Serien vollziehen sich große Veränderungen selten. Dramen geschehen eher beiläufig, oft unbeabsichtigt und manchmal auch lakonisch. Hoffnungen und Enttäuschungen, Mut und Angst offenbaren sich in der Regel in kleinen Episoden. Das ist der wahre Lauf der Geschichte. Der Alltag, der sich manchmal in einem einzigen Moment verdichtet, entlädt oder sogar explodiert.
Bei meinen Lesungen werde ich immer wieder gefragt, wie „meine“ Dorfbewohner auf das Buch reagiert hätten. Ob ich mich noch blicken lassen könne? Meine Antwort ist immer die gleiche: Ja. Die vielen Jahre Vorbereitung, Gespräche und Rücksprachen haben sich offenbar gelohnt. Natürlich gibt es Beleidigte, Gekränkte und einige Empörte. Doch diese Menschengruppe schweigt lieber dröhnend. Oder tobt sich im Netz aus. Ein Blick auf einige Kommentare bei amazon zu So viel Anfang war nie vermittelt einen Eindruck.
Nach wie vor bekomme ich in der Dorfkneipe mein Bier. Das ist wichtig. Das zählt. Aber natürlich bleiben Bedenken. Habe ich den richtigen Ton getroffen? Im Augenblick des Schreibens triumphieren Zweifel und Fragen. Wen soll das interessieren? Habe ich tatsächlich mit allen Wichtigen gesprochen? Muss ich noch diesen oder jenen anrufen, dieses oder jenes lesen? Porträts bedeuten tagelang herumsitzen, zuhören, abwarten, beobachten, wirken lassen. Das Thema, das Erlebte, die Geschichte muss sich in einem Menschen verdichten.
Stairways to heaven. Eine Tradition im brandenburgischen Netzeband. Nach dem „Milchwald“ im Theatersommer erklingt Autor Dylan Thomas zu Ehren die ihm gewidmete Hymne von Led Zeppelin.
Manchmal fühlte ich mich als Eindringling. Es war nicht immer klar, ob mir mein Gegenüber gleich eine knallt oder mich umarmt. Spannende Menschen haben in ihrem Leben einen Wendepunkt. Ihre Persönlichkeit, ihr Ego, ihr Ich sind angegriffen. Sie müssen oder mussten um ihren Platz kämpfen, ihr Selbstverständnis erringen. Jedes Porträt hat eine Grenze. Zum wirklichen Kern des Menschen kann niemand vordringen. Es ist stets nur ein Versuch, ein Herantasten.
Der Kontakt zu den Protagonisten ist wie eine kurze leidenschaftliche Affäre, schrieb einmal die Zeit-Autorin Jana Simon. Sehr intensiv, aber danach wollen sich beide nicht mehr so genau daran erinnern. Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ergänzt: „Ich aber sehe die Menschen mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen des Historikers. Ich bestaune die Menschen. Dieser Maßstab hat mich schon immer fasziniert – der Mensch … der einzelne Mensch. Denn im Grunde passiert alles dort“.