Prager Fenstersturz
Wirkliche Veränderungen, so heißt es bei Bismarck, sind aus Blut und Eisen geschmiedet. Anpacken, zur Tat schreiten, vollendete Tatsachen schaffen. Die Prager haben damit Erfahrung. Dreimal in ihrer Geschichte haben sie den Fenstersturz als Methode des Herrschaftswechsels praktiziert. Zuerst stürzten aufständische Hussiten 1419 die Obrigkeit aus dem Rathaus. 1618 warfen wütende Protestanten katholische Statthalter aus dem Fenster der Burg. Die Herren überlebten. Aber nicht Außenminister Masaryk 1948. Er lag zerschmettert im Hof des Czernin-Palastes.
Der 1618er-Fenstersturz löste einen verheerenden dreißigjährigen Glaubenskrieg in Europa aus. Der 1948er sicherte den Kommunisten eine vierzigjährige Herrschaft in der neuen CSSR. Der Eiserne Vorhang teilte fortan Europa. Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. In der Mitte das eingemauerte Berlin. Fensterstürze können geschichtsmächtige Prozesse entwickeln. Unumkehrbar. Mit weitreichenden Folgen.
Was am 10. März 1948 im prächtigen Prager Czernin-Palast genau geschah, bleibt bis heute ungeklärt. Sicher ist nur: Der liberale, aus dem englischen Exil zurückgekehrte Außenminister war tot. Er stürzte im Palast fünfzehn Meter in die Tiefe, das Fenster in seinem Badezimmer stand offen. Jan Masaryk, Sohn des tschechoslowakischen Staatsgründers, war äußerst beliebt und der letzte verbliebene bürgerliche Politiker im neuen Kabinett. Die Kommunisten hatten die Macht übernommen.
Gestürzt oder gestürzt worden? Die amtlichen Untersuchungen 1948/49 sprachen von einem Selbstmord. Zweifel blieben. Die offizielle Version, er habe an Depressionen gelitten, haben viele nicht geglaubt. 1968 im „Prager Frühling“ nahmen Behörden ihre Ermittlungen wieder auf. Sie wurden mit dem Einmarsch der Sowjets jäh gestoppt. Nach der „samtenen Revolution“ 1989 mühte sich eine Kommission über ein Jahrzehnt lang um Aufklärung. Das Ergebnis 2004 lautete auf Mord. Aber es sei nicht mehr eindeutig und zweifelsfrei beweisbar.
So bleibt das Geheimnis um den letzten Fenstersturz bestehen. Der Czernin-Palast hat in seinen Gemäuern viele Wechsel erlebt. Barocke Pracht. Habsburger Pomp. Niedergang des K.u.K.-Reichs. 1918 Neugeburt und Ende der Tschechischen Republik 1938. Amtssitz des Hitler-Statthalters Reinhard Heidrich. Fenstersturz 1948. Heute residiert im Barock-Palast das Außenministerium der tschechische Republik, die sich 1992 mit der Trennung von der Slowakei halbiert hatte.
„Lob des Opportunismus“. Der tschechische Autor Marek Toman hat einen Roman über die Geschichte des Czernin-Palastes geschrieben. Mit Helden und Halunken, Festen, Feiern, Machtspielen und Intrigen. Das beeindruckende Palais hoch über der Moldau hat die Toiletten mit dem schönsten Ausblick in ganz Mitteleuropa, sagt Toman. Er weiß, wovon er spricht. Der hochgewachsene Mann arbeitet im tschechischen Außenministerium. Nur sollte man sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.