Archive for : März, 2019

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Make Bach great again

Leipzig im Frühjahr. Die Helden-Stadt von 1989. Die Messe-Metropole blüht auf. Wärmende Sonne. Zuversicht. Zuzug. Tüftler, Studenten, junge Familien wagen ihr Glück. In den Straßen innerhalb des Rings herrscht geschäftiges Treiben. Doch die Stadt ändert gerade ihr Gesicht. Wieder einmal. So wie vor dreißig Jahren – nach der Wende. Die Globalisierung drückt ihren Stempel auf. Schleichend, aber unübersehbar.

An der belebtesten Fußgängerzone, der Grimmaischen Straße, befand sich einst ein großer Buchladen. Heute? – Sitz von Vodafone. Smartphones statt Schiller und Ferdinand von Schirach. Ein paar Schritte weiter das Kino Capitol, einst zentraler Ort des Dokfilmfestivals. Heute? – Zalando Outlet. Eine ältere Leipzigerin schüttelt den Kopf. „Das Kino haben sie plattgemacht. Eine Schande.“ Einen weiteren Steinwurf entfernt der Thomaskirchhof. Der sympathische, gut sortierte Buchladen. Heute? – Coffee Shop Bigoti. Die Schaufenster sind verhängt. Ein Schild erklärt – Coming soon. Ein Plakat verspricht: „Coffee keeps me going until it´s time for wine.“ Ach so.

„Coffee“ statt Bücher. Leipzig. Thomaskirchhof im Frühjahr 2019.

Ich drehe mich um. Wenigstens er ist noch da. Johann Sebastian Bach. Er steht weiter auf festem Fundament. Zu seinen Füßen Geburtstagsblumen. Ich bin erleichtert. Zu feiern ist Ende März sein 334. Geburtstag. Der Leipziger Thomas-Kantor mit seinen rund tausend Kompositionen hat noch Freunde, bleibt wohl ewig jung. Selbst Globalisierungsgewinner Google begeht diesen Tag. Bach First. Was schenkt der Suchmaschinenkonzern? – Ein Google Doodle Bach.

Bach im Internetzeitalter. Google hat ein aufwendiges Kompositionsprogramm entwickelt. Ein selbstlernendes System für den eigenen Hausgebrauch. Komponieren wie Bach – Do it yourself! Google-Programmierer haben den Algorithmus von 360 Bach-Original-Chorälen eingelesen. So kann jede(r) Bachfreund mit Hilfe künstlicher Intelligenz einen vierstimmigen Satz komponieren. Beliebig veränderbar. Auf Midi-Dateien speicherbar. Maschinen machen Musik.



Die Google-Generation aus Silicon Valley bezeichnet Bach als den größten Meister der Kompositionstechnik. Original-Ton Bach: „Alles, was man tun muss, ist, die richtige Taste zum richtigen Zeitpunkt zu treffen.“ Nun perfektionieren und globalisieren die Netzgurus aus dem 21. Jahrhundert den Mann aus dem 18. Jahrhundert – per Klick. Zu jeder Zeit, an jedem Ort. „Schönheit, Wahrheit, Hoffnung“ aus dem Rechner. Wer braucht da noch Buchläden, Kinos, Kirchen?

Happy Birthday – Johann Sebastian Bach 2019.

https://youtu.be/Oz1lYc3NfoM
Swinging Bach. Ein Live-Konzert mit echten Musikern von Bobby McFerrin bis Jacques Loussier in Leipzig. Toller Mitschnitt aus dem Jahre 2000.
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Kafka Ahoj!

Kafka, Kundera, Vaclav Havel. Ach, und der berühmte Schwejk vom Schelmendichter Hasek! Das sind die Helden der tschechischen Literatur. War´s das? Keineswegs, versprechen die Macher von Gastland Tschechien. Sie rufen laut und fröhlich Ahoj! Dreißig Jahre nach der Samtenen Revolution von 1989 präsentiert sich unser Nachbar auf der Buchmesse in Leipzig. 55 Autorinnen und Autoren mit insgesamt siebzig Neuerscheinungen sagen, was zu sagen ist.

Die Tschechen bringen ihr ausgeprägtes Talent für Geschichten mit – dieser ganz spezielle Mix aus Tragödie und Komödie. Immer dazwischen. Meist auf der falschen Seite. Besetzt von Nationalsozialisten wie Kommunisten. Das Schicksal eines kleinen Landes im Konzert der Großen. So haben sich die Tschechen nach der Wende von der Slowakei getrennt und sind um die Hälfte geschrumpft. Statt eines  Dichter-Präsidenten mit kurzen Hosen steht mit Andrej Babis ein Altkader und Oligarchen-Premier mit dickem Portemonnaie an der Spitze des Zehn-Millionen-Volkes.

Tschechien profitiert heute wie kein anderes Land von der EU und lehnt Brüssel entschieden ab. Während die Prager Intellektuellen für Europa eintreten, werden sie von den Populisten als “Bessermenschen“ verlacht. Die Mehrheit wählt stramm national. Flüchtlinge sind unerwünscht. So viel Tragödie, Komödie und eine kräftige Prise Schwejk. Das hat die Literatur zu bieten. Gastland Tschechien. Hier einige Empfehlungen.

 

Eine junge Frau sucht ihren Platz in der Welt. Sie ist schüchtern und lebt zurückgezogen, hat die Nase von den Aufschneidern voll. Konsequent zieht sich in einen Kleiderschrank in ihrer Hinterhofwohnung zurück. Und fordert ihre Mitmenschen heraus. Ein starkes Roman-Debüt.

Jarolsav Rudis. Winterbergs letzte Reise.

Der Star und Entertainer der Nachwende-Szene lässt seine beiden Helden – einen Veteranen und seinen Pfleger – von Berlin aus zum Schlachtfeld Königgrätz von 1866 ziehen. Am Ende landen sie in Sarajewo. Eine wilde Tour voller Historie, Witz und packender Reportage. Nominiert für den Buchpreis 2019.

Jaroslaw Rudis vor dem Café Liberál in Prag. Sein Lieblingsort.

Radka Denemarková. Ein Beitrag zur Geschichte der Freude.

Ein Ermittler muss einen Mord an einem Prager Geschäftsmann aufklären. Er verliebt sich in die schöne Witwe. Der Plot nimmt eine jähe Wendung, denn der Ermittler stößt auf drei ältere Damen, die weltweit gewalttätige Männer jagen. Das weibliche Simon Wiesenthal- Trio kennt kein Pardon. Schwalben spielen eine wichtige Rolle in diesem Roman der bekanntesten Gegenwartsautorin des Landes, der Schwalbe von Prag.

Vrastilav Manak. Heute scheint es, als wäre nichts geschehen.

Eine langweilige Familienfeier. Plötzlich werden Erinnerungen wachgeküsst, die Jahrzehnte zurückliegen. Geheimnisse tauchen auf. Der Aufstand der Skoda-Arbeiter in Pilsen vom Juni 1953. Opa erzählt, wovon keiner etwas wusste oder jemals wissen wollte. Vielversprechender Roman eines dreißigjährigen Talents.

Martin Becker. Warten auf Kafka.

Der Angestellte Franz Kafka begeistert die Massen. Auch wenn ihn die Wenigsten lesen. Kafka ist Touristenmagnet und der tschechische Megastar. Berühmter als Karel Gott, Vaclav Havel oder die tschechische Torwartlegende Petr Cech. Was würde es für Boulevard-Blätter bedeuten, wenn herauskäme, dass Kafka verheiratet wäre? Martin Becker weiß es.

Petr Hruska. Irgendwohin nach Hause.

Hruskas Heimat ist Ostrava. Eine Malocher-Region. Hart, hässlich, schmutzig grau. Dort wird nicht viel geredet. Eigentlich ein echtes Manko für begabte Lyriker. Dichter Petr Hruska beweist das Gegenteil. Packende Poesie aus einer Bergarbeiterstadt.

Mehr eigenwillige, aufregende und absurde Geschichten aus dem Lande Schwejks auf der Leipziger Buchmesse vom 20. bis 24. März 2019.