Zimmer frei

Anfang 1990. Ein Mecklenburger steht am Gartentor. Zigarillo im Mund. Er fixiert den Fotografen. Auf den ersten Blick wirkt der Mann misstrauisch-skeptisch. Dabei versprechen seine Schilder das pure Gegenteil: Gastfreundschaft und ein warmes Bett. „BRD-Bürger. Übernachtung kostenlos.“ Dreißig Jahre später lächeln wir über seine Offerte. Beim Nachdenken spüren wir wie sich die Zeiten geändert haben. Ob jemals ein Bürger aus der BRD das Angebot angenommen hat, wissen wir nicht. Was heute dominiert, das wissen wir wohl. Geschäftssinn statt Gastfreundschaft. Fremdeln mit allem Fremden, so tickt der Zeitgeist.

Zimmer frei? – Umsonst? – Für Fremde? – Wer ein Nachtquartier sucht, der bekommt es heute nur für Zahlung im Voraus. Dreißig Jahre Einheit hat die Menschen verändert. Die Wende hat allen Festreden und Statistiken zum Trotz offenbar – gefühlt – mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht. Die Einheit empfinden viele nicht als freundliche sondern feindliche Übernahme. Das Trauma Treuhand bedeutet für zahllose Familien Enttäuschung und Kränkung. Die Verletzung von Biografien und Seelen. Die Flüchtlingsfrage entwickelt sich zur Sollbruchstelle für die liberale Demokratie westlicher Prägung. Vereint? Von wegen. Integriert doch erst mal uns, heißt es trotzig.

 

Mecklenburg, Anfang 1990. Quelle: Robert Havemann-Gesellschaft

 

Ohne uns! So lautet die andere Botschaft. Längst existiert eine Parteiendemokratie ohne Mitmacher. In Sachsen lautet die magische Zahl aller Parteimitglieder 0,8% gemessen an der wahlberechtigten Bevölkerung. Somit sind die Sachsen Spitzenreiter, tragen die Rote Laterne. Parteimitgliedschaft? Nein, danke. Im Westen pendelt die Quote zwischen 1 und 2%, im Saarland immerhin bei über 4%. Alle sächsischen Parteien zusammen haben nur etwas mehr Mitglieder als der Fußballverein Dynamo Dresden. (rund 20.000). Parteiendemokratie heißt in Sachsen von 0,8% regiert zu werden.

 

Gesehen in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße.

 

Das Problem sind wir. Aber auch die Lösung.“ Das sagt Dirk Neubauer, Bürgermeister von Augustusburg bei Chemnitz. Der Quereinsteiger versucht seit Jahren das Unmögliche. Aus stummem Frust und besorgter Bürgerwut einen Neuanfang zu schmieden. Noch sei es nicht zu spät, schreibt er in seinem Buch, das Anfang September 2019 – am Tag nach der Sachsenwahl – erscheinen wird. Seine Botschaft: Nicht auf Zeit spielen. Etwas daraus machen. Handeln. Kennen wir das nicht? Erinnert uns dieser Stoßseufzer nicht an die sattsam bekannte Klimadebatte?

 

„Ich war gerne DDR-Bürger.“ Gesehen in Hoyerswerda auf der Heckscheibe eines Mittelklassewagens.

 

Der Osten eine fremdenfeindliche Zone? – Von wegen. An einem heißen Juliabend erreichten wir nach einem langen Arbeitstag erschöpft eine Gaststätte in Thüringen. Potzblitz. Was sahen wir? Ruhetag! Geschlossen. Doch unser Klingeln und Betteln half. Am Ende der Welt, mitten im ehemaligen Grenzgebiet zur „BRD“, ließ sich die Wirtin erweichen, packte die Pfannen aus und servierte ihren hungrigen Gästen „Thüringer Rostbrätl mit Bratkartoffeln“. Das Wegebier für die Nacht verkaufte der Sohn für einen Euro die Flasche. So viel Gastfreundschaft und Fremdenfreundlichkeit geht auch – dreißig Jahre nach dem Fall der sichtbaren Mauer.

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