Scheitern als Chance

„Das Echte suchen, das Falsche demaskieren.“ Oder: „Inszenieren, um das Inszenierte offenzulegen.“ Das sind Sätze Marke Christoph Schlingensief. Merkwürdig. Er ist mittlerweile seit zehn Jahren tot, doch seine Arbeiten sind lebendiger denn je. Seine  stets umstrittenen Inszenierungen lagen einfach ein paar Schritte zu weit in der Zukunft. Der Theatermann war seiner Zeit voraus. Schlingensiefs Botschaft: Probiert Euch aus. Scheitern gehört dazu. Es ist eine Chance. Ein neuer Dok-Film von Bettina Böhler, zwei Stunden und zehn Minuten lang, erinnert nun an den Visionär aus Oberhausen: Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien.

 

 

Schlingensief hatte mindestens sechs Leben. Mit der Super-8-Kamera seines Vaters hielt er die Wirtschaftswunder-Bundesrepublik fest. So dokumentierte er als Teenager sein Elternhaus. Das war zutiefst staatstreu, katholisch, rheinländisch. Vater Apotheker, Mutter Krankenschwester. Er scheiterte an der Filmhochschule, um danach richtig loszulegen. Er inszenierte (sich) als Bürgerschreck, brachte als Neuling mit 100 Jahre CDU einen Aufreger auf die Berliner Volksbühne.

Der Autodidakt tanzte nackt in der U-Bahn, karikierte Mainstream-Talkshows, trommelte in brandenburgischen Dörfern für seine Partei Chance 2000. Das Resultat: 180.000 DM Steuerschulden. Im „Deutschen Kettensägenmassaker“ nahm er früh das bis heute lähmende Ost-West-Mißtrauen aufs Korn. Nichts hielt ihn auf. 2007 inszenierte er Wagners Liebestod-Drama Parsifal auf dem Grünen Hügel. Der anarchische Bürgersohn Schlingensief in Bayreuth. Mehr geht nicht in diesem Lande.

 

Premiere auf der Berlinale. Ab Anfang April 2020 im Kino.

 

Keine Frage. Schlingensief stellte sich stets in den Mittelpunkt. Unermüdlich inszenierte er sich als Tabubrecher. Teilte aus, provozierte, steckte ein. Kritiker warfen ihm kindlichen Klamauk vor. Er sei ein selbstverliebter Theaterclown. Ich erlebte ihn in meiner aspekte-Zeit anders. Ernsthaft, an Erkenntnis und Ergebnissen interessiert. Als er 2003 Hamlet am Schauspielhaus Zürich inszenierte, besetzte er den rachsüchtigen Herrscher mit einem Neo-Nazi-Aussteiger. In Freak Star 3000 ließ er 2004 einen geistig Behinderten den damaligen FDP-Chef Jürgen Möllemann spielen. Ein Körperbehinderter übernahm die Rolle seines Kontrahenten Michel Friedman. Schlingensiefs Antwort auf das offizielle Polit-Theater. Moralisten mäkelten, er betreibe Missbrauch mit Abhängigen. Ich kann mich gut erinnern. Die Darsteller liebten Schlingensief und das Stück.

Schonung war für ihn ein Fremdwort. Er nahm sein Leben als Material, am Ende auch seine Krankheit. Er stellte sein Krebsgeschwür öffentlich aus – bis an die Schmerzgrenze in der Kirche der Angst (2008). Was bleibt? Das Operndorfprojekt in Burkina Faso, das seine Witwe Aino Laberenz weiterführt. Und die Erkenntnis, dass er ein Ausnahmekünstler war, im Gelingen wie im Scheitern. Schlingensief starb 2010 im Alter von 49 Jahren. Der Dokumentarfilm von Bettina Böhler lässt ihn zumindest auf der Leinwand wieder lebendig werden. Was für eine atemberaubende Wiederbegegnung!  Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien. Kinostart: 2. April 2020.

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