Born in the USA
„They are very good people“, twitterte der Präsident der Vereinigten Staaten, als im Frühjahr hochgerüstete „Proud Boys“ das Capitol von Michigan stürmten. Anfang Oktober 2020 zerschlug das FBI eine Verschwörergruppe und nahm dreizehn selbsternannte Kämpfer fest. Die Michigan-Milizien wollten Gretchen Widmer, die demokratische Gouverneurin von Michigan, entführen, um die Macht zu übernehmen. Der Vorwurf: Widmer begehe „Verrat an den USA“, weil sie einen harten Kurs in der Corona-Pandemie fährt. Präsident Trump schürt auch nach deren Verhaftung das Feuer weiter. „Ihr müsst eure Gouverneurin dazu bringen Euren Staat zu öffnen“. Seine Anhänger antworteten mit einem Trump-Slogan aus dem Wahlkampf 2016: „Sperrt sie ein!“ Trump ergänzte die Sprechchöre mit einem: „Sperrt sie alle ein!“
Die USA im Herbst 2020. Ist Trump die Stimme des wahren Amerikas? Um Gottes willen, antwortet Bruce Springsteen, er ist „ein krimineller Clown, der den Thron gestohlen hat“. Das bleibe er trotz seiner 63 Millionen Wähler, von denen viele Trump bis heute wie einen Heiland verehren. Der US-Präsident füttert in seinem Dauerfeuer von mittlerweile über 50.000 Tweets das Amerika der kleinen Leute, die von „Eliten“ und „Feinden des Volkes“ – den Medien – verraten worden seien. Dieses Heer der Hoffnungslosen besingt seit Jahrzehnten keiner erfolgreicher als Bruce Springsteen. In diesen aufgeputschten Tagen hat er mit seinem neuen Album Letter to you ein leises, nachdenkliches Statement abgegeben.
Als wolle der 71-jährige die Zeit zurückdrehen, beschwört der Mann aus New Jersey die gute alte Zeit der siebziger und achtziger Jahre. Er gräbt sich in die Seele seiner verunsicherten Landsleute und beschwört den Mythos von ehrlichen, fleißigen Frauen und Männern, die hart schuften aber mehr nicht länger betrogen werden wollen. Wie ein Pfarrer am Sonntagmorgen zelebriert er die Messe vom Lonesome Rider, der den Halunken und Gaunern trotzt. Bruce: „Alles, was ich aus schweren Zeiten und guten gelernt habe, habe ich mit Tinte und Blut niedergeschrieben – und es als Brief an euch geschickt.“
Letter to you erzählt von Jugend und Rebellion, Verlust und Vergänglichkeit. In der kleinen Episode in The Last Man Standing geht es um seine Schulband Castiles, die auf verlorenem Posten steht aber nie aufgibt. Die Beschwörung des amerikanischen Traums. Der nette Kerl von nebenan, der es am Ende schafft. Bruce selbst staunt über seinen phänomenalen Aufstieg zur Stimme des anderen Amerikas. „Vor euch steht ein Mann, der irren und absurden Erfolg damit hatte, über Sachen zu schreiben, von denen er absolut keine Ahnung hat. Ich habe alles erfunden … so gut bin ich.“
Letter to you ist der aktuelle Soundtrack des besseren Amerikas. Eine Hymne an vergangene Zeiten, als das Land für Freiheit, Fortschritt und Demokratie stand. Wird es jemals wieder so werden? Das Album ist wohltuend in Zeiten, in denen Demagogen rund um die Uhr ihr Hexengebräu aus Hass und Lügen als Allheilmittel verabreichen. Bruce tells the truth. Ob ihm mehr zugehört wird als den Scharfmachern im Weißen Haus oder anderswo in den Verfeindeten Staaten von Amerika?