„Wir kümmern uns“
Ingeborg M. * ist Intensivschwester. Sie liebt ihren Beruf. Im Laufe der Pandemie sammelte sie mehr als 200 Überstunden. Corona kennt keinen Feierabend. Sie freute sich im stressigen Katastrophenjahr über Anerkennung und Beifall. Ein dankbarer Blick von Patienten und Angehörigen ist viel wert, wenn Ingeborg mal wieder geholfen hatte ein Menschenleben zu retten. Großartig! Als sie ihre Überstunden einreichte, hörte sie nichts mehr. Sie rackerte weiter, vertrat Schichten bis zur völligen Erschöpfung. Als sie wiederholt nach dem Lohn für ihre Überstunden fragte, bat die Verwaltung um Geduld. Bis zum Jahresende 2020 wurde keine einzige Überstunde bezahlt.
Ingeborg M. kündigte. Nach 14 Jahren auf der Intensivstation in einer süddeutschen Kleinstadt. Die aus Mecklenburg-Vorpommern stammende Fachkraft hat mittlerweile einen „ruhigeren“ Job in einer Reha-Einrichtung. Es gibt viele Ingeborgs. Ganze Teams denken laut einer Studie mehrmals pro Woche darüber nach auszusteigen. Die erfahrene Ingeborg fragt, wie künftig Pflege in Krankenhäusern und Heimen noch funktionieren soll. Sie kenne so viele Kolleginnen und Kollegen vom Kreißsaal bis zur Palliativstation, denen es ähnlich ergehe. Durchschnittlich bleibt eine Pflegkraft acht Jahre im Beruf. Viele der 1.7 Millionen „Helden der Arbeit“ (Ingeborg) sind ausgebrannt, frustriert oder werden um Überstunden und Zulagen gebracht. Darüber offen zu reden trauen sich die wenigsten. Auch Ingeborg nicht.
Vielleicht sollte Ingeborg im Herbst Bundestagsabgeordnete werden? Vielleicht würde dann der angekündigte Corona-Bonus endlich an alle ausgezahlt werden. Wichtiger noch: Wie wäre es, die bekannten Missstände im Gesundheitswesen wie Personalmangel, Fallpauschale oder Überstunden abzustellen. Oder die Perspektive, den Schlüssel von einer Pflegeperson pro 13 Patienten (Bundesdurchschnitt) auf ein menschenwürdiges und medizinisch angemessenes Level zu senken. Keine verkehrte Idee in einem reichen Land.
Währenddessen kümmerten sich im ersten Corona-Jahr „bis zu zwei Dutzend Bundestagsabgeordnete“ um das lukrative Maskengeschäft. Einige MdBs waren mit ihren Überstunden äußerst erfolgreich. Vizefraktionschef Georg Nüßlein (CSU) verdiente 2020 an der Corona-Not 660.000 Euro Vermittlungsgebühren. Er werde „seine Ämter ruhen lassen“, ließ er verkünden. Der Mannheimer CDU-Abgeordnete Nikolas Nübel nahm 250.000 Euro . Eine „marktgerechte“ Provision, so der 34-jährige Hinterbänkler. Der Unternehmensberater bot Schutzmasken einer baden-württembergischen Firma feil. „Ich hätte sensibler handeln sollen“, ließ Maskenlobbyist Nübel mitteilen. Er bedaure den Fehler und ziehe sich daher aus dem Auswärtigen Ausschuss zurück.
Zum Schluss ein einfaches Rechenexempel. Wie viele Überstunden im Gesundheitswesen könnten mit Hilfe der Masken–Boni (derzeit 910.000 Euro; ohne Dunkelziffer) der Abgeordneten beglichen werden? Der Stundenlohn einer Krankenschwester beträgt 11,63 brutto. Bei vorsichtiger Schätzung könnten bundesweit mehr als 80.000 Überstunden ausgezahlt werden. Mit dabei wären auch die 200 Stunden von Ingeborg M., auf deren Überweisung sie bis heute wartet.
* Richtiger Name bekannt.