Nach 6 Jahren Sanierung wieder geöffnet. Neue Nationalgalerie Berlin

Wer ist Sonja?

Sie sitzt aufrecht in einem Berliner Café. Sie schaut ernst und abwartend. Fast gelangweilt. Ihre Augen schauen uns direkt an. Ihre Tischnachbarn sind nur angedeutet. Wahrscheinlich sind sie unwichtig. Obwohl, wer weiß? Die Frau im „kleinen Schwarzen“ raucht, wartet, überlegt. Hofft sie, den großen Moment zu erleben oder das kleine Glück nicht zu verpassen? Sonja. Berlin, 1928. In jenem Jahr wurde mein Vater geboren, mein Schwiegervater auch. Der Maler Christian Schad hat diesen kühlen, flirrenden Augenblick des Zeitgeistes festgehalten. Nun ist Sonja nach sechs Jahren Umbauzeit wieder zu sehen. Die Ausstellungsmacher der neueröffneten Neuen Nationalgalerie in Berlin haben Sonja in die „Neue Sachlichkeit“ einsortiert. Doch wer ist Sonja?

 

Christian Schad. Sonja. 1928

 

Sonja heißt eigentlich Albertine Gempel. In Schwerin geboren, zieht die unternehmungslustige, junge Frau nach Berlin. Nur nichts verpassen, heißt die Devise. In der Hauptstadt der Hoffenden und Scheiternden jobbt sie bei einer Mineralölfirma, bewegt sich jedoch lieber in Künstlerkreisen. Albertine ist Jüdin. Als die Nazis an die Macht kommen, verpassen ihr die neuen NS-Herren einen Stern, den sie nicht mehr ablegen kann. 1933 wird sie fristlos entlassen.  Albertine zieht von Berlin nach München. Dort lernt sie das Glück ihres Lebens kennen. Den Maler Franz Herda, der aus Brooklyn, New York City stammt. Im Überlebenskampf der nächsten Jahre wird sie diese Verbindung retten.

 

Die „echte“ Sonja. Albertine Gempel (1896-1973). Dieses Foto stammt von 1926.

 

Albertine steht mehrfach auf Transportlisten. Doch viel Glück, ein US-Reisepass und „ihr unerschrockenes Auftreten“, so der Ausstellungstext, bewahren sie vor der Deportation in den sicheren Tod. Albertine kann ihrem Freund Franz Herda nach New York folgen. Dort heiraten sie 1948. Aus Sonja wird nun die US-Bürgerin Albertine Herda. Das Paar bleibt bis Anfang der sechziger Jahre in New York, dann kehren sie gemeinsam nach Deutschland zurück. Da Ehemann Herda nicht nur Sonja das Leben gerettet hat, ernennt ihn die israelische Gedenkstätte Yad Vashem zum „Gerechten unter den Völkern“. Die Geschichte vom Happy End von Sonja alias Albertine Gimpel ist dem neuen Begleitext der Nationalgalerie zu verdanken. Neu ist: Schicksale porträtierter Personen werden – soweit möglich – entschlüsselt und erklärt.  Jetzt bekommen die Unbekannten ein Gesicht, eine Geschichte, einen Namen.

 

Lotte Laserstein . Abend über Potsdam. (1930) Mehr Frauen, mehr globale Moderne, mehr Transparenz verspricht die Neue Nationalgalerie.

 

In der detailgetreu aufgehübschten Neuen Nationalgalerie sind nun 250 der 1.800 Bestandsbilder endlich wieder zu sehen. Die neue Dauerausstellung Kunst der Gesellschaft zeigt prominente Werke von 1900 bis 1945. Von Käthe Kollwitz bis Picasso, von Lotte Laserstein bis George Grosz. Diese unruhige, nervöse Krisenzeit mit zwei Weltkriegen und einem hektischen Tanz auf dem Vulkan steht wie keine andere Epoche für Aufbruch und Erschütterung. Erfreulich: Das sechsjährige Warten wegen der Generalsanierung des ikonischen Baus von Mies van der Rohe durch den Briten David Chipperfield hat sich gelohnt.  Sonja, Abbild der neuen Frau von 1928, wartet wieder im Untergeschoss. Mit kühlem Blick, einer Rose am Kleid und einer qualmenden Zigarette. Sie signalisiert: „Ich lebe meine Leben. Und Du?“ Vielleicht ergibt sich doch etwas Neues – beim Rendezvous in der Neuen Nationalgalerie. Wer weiß?

 

 

Die Kunst der Gesellschaft. Neue Nationalgalerie Berlin. Bis 2. Juli 2023

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