„Meine ersten 100 Jahre“
Vor kurzem war ein weitgereister, älterer Herr zu Besuch in Wien, in seiner Geburtsstadt. Georg Stefan Troller. Autor, Filmemacher und Weltbürger mit amerikanischem Pass und Wohnsitz in Paris. Sein neues Buch wollte er persönlich vorstellen, das ließ er sich nicht nehmen. Titel: „Meine ersten 100 Jahre“. Natürlich wurde er sofort gefragt, wie sich denn die heutigen Zwanziger Jahre anfühlen. Troller: „Da ich die alten Zwanziger und Dreißiger erlebt habe, bin ich persönlich etwas pessimistisch”, sagte er. “Es kommt wieder eine Zeit, in der die Leute lieber glauben wollen als wissen, sich lieber einer schönen Illusion anheimgeben, als sich der miesen Realität zu stellen.”
Miese Realität und schöne Illusionen. Troller hat sich stets für beide Seiten interessiert – als Menschenfreund und Menschenfresser, wie er sich einmal nannte. Für seine Fernsehporträts hat er über 2.000 Interviews geführt, mit Herz und Hirn. Troller besuchte die Berühmten des 20. Jahrhunderts, die Stars und Sternchen, die Mächtigen und Eitlen, aber auch Außenseiter und Unangepasste wie einen kriegsversehrten Vietnam-Veteranen oder den Ost-Berliner Schriftsteller Thomas Brasch.
Troller, 1921 geboren, ist ein waschechtes Wiener Kind. Der Sohn eines Pelzhändlers wächst in einer Metropole der Melancholie auf, der Glanz der alten K.u.K.-Zeit der Habsburger ist verblichen. Jüdisch-spießig beschreibt Troller seine Kindheit. Die Eltern sind ehrgeizig, aus dem Bub soll was werden. Motto: „Tu was für deine Bildung!“ Als die Nazis 1938 Wien übernehmen, kann die Familie in letzter Sekunde nach Frankreich flüchten. Später emigriert Troller in die USA, um als amerikanischer Soldat ins zerstörte Nazi-Reich zurückzukehren. Hassgefühle hegt er nicht, allenfalls Verachtung für diejenigen, die uneinsichtig bleiben.
Das neue Fernsehen der Nachkriegsjahre wird sein Medium. Über ein halbes Jahrhundert sammelt er Geschichten ein. Unbestechlich und mit genauem Blick. Er dreht über 150 Porträtfilme, trifft Romy Schneider oder Woody Allen. Seine Begegnungen sind stets anders, immer ungewöhnlich. Wenn es sein muss, interviewt er Undergroundpoet Charles Bukowski auf dem stillen Örtchen. Oder fängt sich von Boxerlegende Muhammad Ali für sein freches Nachfragen ein paar Hiebe ein. Filmemachen sei für ihn wie eine Therapie gegen Kontaktscheu und das Gefühl, das eigene Leben sei nichts wert. Seine Arbeiten sind zeitlos sehenswert, ein Stück Fernsehgeschichte. Sein Geheimnis? Er hat die Wirklichkeit nicht glattgebügelt, sondern mit Humor und Menschenliebe einen Blick hinter die Oberfläche riskiert, auf das Absurde und das Grundsätzliche.
Was macht das Leben aus? Er sagt: Die Summe der intensiv erlebten Augenblicke. Troller hat sie eingefangen, wie kein anderer. Nun hat er seine Autobiografie veröffentlicht: „Meine ersten 100 Jahre“. Das passt. Typisch Troller.
Georg Stefan Troller in: Zeugen des Jahrhunderts mit Gero von Böhm. 2016