Ein Ritt über den Bodensee
Großschriftsteller Martin Walser und sein fliehendes Pferd. Ob er den Ritt über den Bodensee noch wagen würde? Wohl kaum! Die Bodensee-Pilger wählen heutzutage das Rad, nicht das Pferd. Sie gehören zur Großgruppe der hochmobilen Ü-60-Generation. Er oder sie ist ausgestattet mit Rentenbescheid, E-Bike, Helm, bunter Funktionskleidung und Rossmann-Sonnenbrille. Vorne radelt in der Regel der männliche Vertreter, Typ rüstiger Rentner mit Hoppla-jetzt-komm-ich-Haltung. Im Windschatten gefolgt von der Gattin. Die verspiegelte Sonnenbrille lässt nur wenig Rückschlüsse zu auf ihr Wohlbefinden. Das größte Glücksgefühl ereilt diese Radlerrudel mit Hilfsmotor an langen Aufstiegen, wenn sie mit einem überlegenen Lächeln an unmotorisierter Konkurrenz vorbeiziehen.
Das ist im angehenden Sommer 2022 der ultimative Kick für die Babyboomer-Generation! Maskenlos und mit vollem Akku rund 250 Kilometer rund um den Bodensee düsen, solange der Saft aus der Steckdose reicht. Radeln durch eine herrliche Landschaft mit See und Alpen bis zum nächsten Gartenlokal. Prost! Dort schmeckt das alkoholfreie Weizenbier doppelt so gut wie zuhause.
Tatsächlich macht der Bodensee seinem Namen alle Ehre. Der See ist bis auf den Boden glasklar. Das Panorama der Alpen ist überwältigend und die Uferpromenaden sind ausstaffiert als stünde die nächste Bundesgartenschau vor der Tür. Es macht dabei keinen Unterschied, ob die radelnde Massen durch Baden-Württemberg, Bayern, Österreich oder die Schweiz touren. Einzig kleiner, aber feiner Unterschied. Bei den Eidgenossen ist alles deutlich teurer.
Die Bodenseeregion wirkt komplett durchorchestriert. Bis auf wenige Nischen am Hochrhein, auf der Höri oder dem österreichischen Rhein-„Ländle“ ist alles durchsaniert und bebaut. Der Ufersaum ist ein langer, verdichteter Freizeitpark. Hotels, Apartments, Minigolfplätze, Einkaufsmärkte sowie Hinweis- und Verbotsschilder aller Art säumen den Weg. Typisch bei der Bodensee-Runde sind unzählige Neubauten mit Seeblick, Villen aller Art und Geschmacksrichtungen. Mal mehr, mal weniger elegant versteckt hinter mannshohen Buchenhecken, aufgeschichteten Steinwällen oder hölzernen Sichtschutzblenden. Auf alle Fälle gilt: „Zutritt verboten“. Das Ufer scheint fest in Privathand zu sein. Die übriggebliebenen Freiräume teilen sich Naturschutz, Badebetrieb, Tagestouristen, Airbnb-Ausflügler und die vielen Menschen auf der Durchreise wie die Bodenseeradler.
Der Maler Otto Dix fühlte sich einst am Bodensee „in die Landschaft verbannt“. Dix suchte in den dreißiger Jahren kurz vor der Schweizer Grenze einen sicheren Rückzugsraum, sein inneres Exil vor den Nazis. Die Natur sei „zum Kotzen schön“, meinte er. Das trifft auch heute noch zu. Allerdings muss der Genuss mit den Segnungen des modernen Massentourismus kombiniert werden. So wäre ein Ritt über den Bodensee heute kaum noch möglich, weil zuerst eine zugängliche Stelle gefunden werden müsste. Dabei meint das geflügelte Wort vom Ritt über den Bodensee, dass man etwas sehr Gefährliches unternommen hat und das wahre Risiko erst im Nachhinein erkennt.
Diese Ballade des Heimatdichters Gustav Schwab aus dem Jahre 1826 beruht auf einer wahren Begebenheit. Sie handelt von einem Mann, der an einem kalten Wintertag rasch ans andere Ufer gelangen will. Er möchte ein Schiff nehmen, kann aufgrund des schlechten Wetters den Weg jedoch nur schwer erkennen. So reitet er, ohne es zu merken, über den zugefrorenen Bodensee. Am anderen Ufer trifft er eine Frau und fragt, ob noch ein Schiff komme. Sie antwortet, dass er längst am anderen Ufer angekommen sei. Als der Reiter begreift, in welch gefährliche Lage er sich gebracht hatte, fällt er vor Schreck tot vom Pferd.
Keine Bange. Solch ein Ritt über den Bodensee ist heutzutage mehr als unwahrscheinlich. Zum letzten Mal war Europas drittgrößter Binnensee im Februar 1963 komplett zugefroren. Damals wanderten Deutsche, Schweizer und Österreicher ans jeweils andere Ufer. Es war ein Volksfest. Heutzutage – von fehlenden kalten Wintern infolge des Klimawandels abgesehen – wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man am anderen Ufer zuerst auf ein Schild treffen würden, auf dem steht: Zutritt verboten!