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Sie kam aus Fürth

Natascha Wodin. Ihr Leben ist ein Roman. 1945 als Flüchtlingskind im fränkischen Fürth geboren. Vater Russe, Mutter Ukrainerin. Wie Millionen andere Zwangsarbeiter nach Hitler-Deutschland verschleppt. Nataschas Mutter schuftete in einem der 35.000 Zwangsarbeiterlager. Sie musste Granaten drehen.  Nach dem Krieg wurden sie nicht mehr gebraucht, in der Sowjetunion als „Kollaborateurin des Kriegsfeindes, als Hure der Deutschen“ beschimpft. 1956 ertränkte sich Nataschas Mutter in einem Fluss, „rechtlos, perspektivlos, zerstört von den Gewalten, in deren Mahlwerk ihr Leben geraten war“. Dieses Schicksal schildert Wodin in ihrem erschütternden Roman und Bestseller „Sie kam aus Mariupol“. Heute ist Natascha Wodin 76 Jahre alt. Und Mariupol wieder umkämpftes Kriegsgebiet.

 

Die Mutter von Natascha Wodin. Eine hochgebildete und musikalische Frau aus Mariupol. Foto: Rowohlt

 

Die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte Wodin unter erbärmlichen Zuständen in einem Lager für Displaced Persons in Forchheim. Nach dem Tod der Mutter steckte ihr Vater, ein Sänger im Kosakenchor, die elfjährige Natascha in ein katholisches Mädchenpensionat. Als sie schließlich zum gewalttägigen Vater zurückkehrte, floh sie in die Obdachlosigkeit. Ohne schulische Abschlüsse schlug sie sich als Telefonistin, Stenotypistin, und Dolmetscherin durch. Ihrem Tagebuch vertraute die Deutsch-Ukrainerin ihre Erlebnisse im Wirtschaftswunderland an. Sie heiratete in erster Ehe ein NPD-Mitglied, dessen Vater Gauleiter war.  Der Scheidungsanwalt erhielt Kenntnis von ihren Tagebüchern und empfahl ihr, Schriftstellerin zu werden. So wurde Wodin zur „späten“ Autorin. Mit vierzig Jahren fing sie an, Texte zu veröffentlichen. Die zweite Ehe ging sie mit dem Leipziger Schriftsteller Wolfgang Hilbig ein. Nach acht Jahren konnte sie sich „aus den Zwängen einer desaströsen Ehe“ befreien. Erst hat sie die neue Freiheit gefeiert, bis diese „am Ende erst langweilig, dann immer deprimierender“ wurde. Seitdem verbringt die Wahl-Berlinerin Weihnachten immer alleine. „Meine alte Kindertraurigkeit“, sagt sie.

 

Natascha Wodin auf der Leipziger Buchmesse 2017. Foto: CC. BY-SA 4.0

 

Den Akt des Schreibens empfindet sie als ein „Schweben über dem Abgrund“. Während sie schreibt, läuft im Hintergrund das Fernsehen. Das lenke sie keineswegs ab, sondern sorge dafür, dass sie „in der Welt bleibt“. Eigentlich wollte sie nichts mehr mit Russland, Ukraine und dem Osten zu tun haben. Doch nach ihrem großen Erfolg „Sie kam aus Mariupol“ legte sie 2021 mit „Nastjas Tränen“ nach. Es ist die Lebensgeschichte ihrer ukrainischen Putzfee: „In ihren Augen, in denen ich einst das Heimweh meiner Mutter gesehen hatte, erkannte ich jetzt die Angst meiner Mutter. Fünfzig Jahre waren inzwischen vergangen, aber die Angst war dieselbe geblieben“. Was ist Natascha Wodin? Deutsche oder Ukrainerin? In ihrem Roman gibt sie Auskunft: „Ich dachte auf Deutsch, ich träumte auf Deutsch, ich schrieb meine Bücher in deutscher Sprache, ich hatte einen deutschen Freundeskreis und kochte deutsch oder wie es mir gerade einfiel, aber jedenfalls nicht ukrainisch“.

 

 

Schade, dass ihre Geschichte über Nastjas Tränen bereits nach 189 Seiten zu Ende ist. Wer Natascha Wodin bei einer Lesung erleben möchte, am 27. August 2022 um 21 Uhr ist Gelegenheit. Wo? Im Alten Gymnasium in Neuruppin

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