Liebling Kreuzberg
Eine kleine Gruppe versammelt sich in Riehmers Hofgarten. Im Vorzeige-Kreuzberg. Es gibt drei Reden. Es spricht der Kultursenator, der Sponsor und der Biograf. Danach schreitet die kleine Schar zum Ort des Geschehens. Hauseingang Hagelbergerstraße 10c, gut geschützt vom Lärm der Großstadt. Die Witwe enthüllt eine Tafel, auf der steht: „Hier wohnte von 1980 bis 1994 Jurek Becker. Drehbuchautor, freier Schriftsteller“. Die Umstehenden applaudieren, stoßen mit Sekt an. Wer? Jurek Becker! Die neue Kreuzberger Tafel hilft. Sie berichtet von „Jakob der Lügner“ und „Liebling Kreuzberg“. Das eine war ein Welterfolg, verfilmt in der DDR und für den Oskar nominiert. Das andere war eine erfolgreiche Fernsehserie. Manfred Krug als kauziger Anwalt, der komplizierte Fälle löst und grünen Wackelpudding liebt. Manfred Krug und Jurek Becker waren unzertrennliche, beste Freunde.
Auf der Messingtafel steht: „Jurek Becker. 30.09.1937 – 14.03.1997“. Dabei ist das Geburtsdatum Spekulation. Nicht einmal Becker wusste genau, wann er geboren wurde. Der Grund: Sein Vater schummelte bei seinem Geburtsdatum, um das kleine Judenkind in den Nazi-Lagern vor Schlimmeren zu bewahren. Vater und Sohn überlebten den Holocaust getrennt in verschiedenen Lagern. Über zwanzig Familienangehörige gingen ins Gas, auch Jureks Mutter starb, an Entkräftung kurz nach Kriegsende. Nach der Befreiung erzog Vater Becker seinen Sohn zu einem „guten Kommunisten“. Lagerkind Jurek sprach kein Wort Deutsch, nur polnisch. Erst mit neun Jahren wurde er eingeschult. Die deutsche Sprache wurde seine neue Heimat. So wuchs der kleine Ghetto-Junge aus Lodz in die DDR hinein. FDJ, SED, zwei Jahre Kasernierte Volkspolizei (Vorgänger der NVA), Philosophie-Studium an der Humboldt-Uni. Bis zum Einmarsch der Sowjets in Prag 1968 übte er „unbedingte Loyalität“. Dann verließ er den realsozialistischen Pfad.
Becker flüchtete in die Literatur. Nur hier gab es „noch Meinungsverschiedenheiten“, konnten aus Biografien Menschen werden. So erfand er Jakob, den Lügner. Der kleine Ghettojunge macht seinen angstgeschüttelten, eingepferchten und verzweifelten Mitbewohnern Mut. Jakob besitzt ein Radio, hört heimlich „Feindsender“ und berichtet, die Front der Befreier rücke ständig vor. Die Rettung sei nah. Doch das Radio gibt es nicht. Jakob ist ein Lügner. Fälschen im Namen der Menschlichkeit. Jakob der Lügner ist ein „in der Hölle spielendes Märchen“ (Louis Begley). Auch Lügner können Helden sein, wenn sie Menschen mit ihren Illusionen Hoffnung machen. Becker über seine Rolle als Autor: „Ich versuche es mit Worten, sonst habe ich nichts.“
Mit dem erstarrten Denkverbot-System der DDR konnte Becker nie klarkommen. Nach Biermann-Ausbürgerung und Ausschluss von Dichterkollegen Reiner Kunze verließ er Ende der siebziger Jahre erst den Schriftstellerverband, dann die DDR. Jedoch mit einem seltenen Privileg. Der bei den Mächtigen ins Abseits geratene Schriftsteller erhielt ein Dauervisum, wurde ein Dichter mit zwei deutschen Pässen. „Wenn ich schon die Schnauze halten soll, dann halte ich sie lieber auf den Bahamas.“ Aus der Südseeinsel wurde nichts, stattdessen fand er eine Bleibe im eher vornehmen Kreuzberger Hinterhof – in der Hagelbergerstraße 10c, an der jetzt die neue Tafel prangt.
Was hätte er zum kleinen Festakt gesagt? Der Mann, der Sport und Jazz über alles liebte, der ein begeisterter Postkartenschreiber war. Wir wissen es nicht. Aber alles Staatstragende war ihm eher verdächtig und vielmehr Material für Spott und Ironie. In „Irreführung der Behörden“ oder im „Jakob“ lässt sich vieles neu entdecken. Das Finale des kleinen Festakts „in einer Gegend, die mir sehr behagt, sehr lebendig“ (Originalton Becker) hätte ihm wohl gefallen. So versammelten sich Freunde nach der Enthüllung in der Osteria um die Ecke – seinem Lieblingsitaliener in Kreuzberg.
Wer mehr erfahren will. Hier eine TV-Doku des Bayrischen Rundfunks über Jurek Becker mit überraschenden Alltagsbildern aus der Wendezeit 1989/90: