Solo Wolfgang
Anfang Oktober. Das Einheitswochenende. Schloss Neuhardenberg bei Berlin lädt zu einer Lesung. „Begräbnis einer Gräfin“ steht auf dem Programm, gelesen von der Schauspielerin Jutta Hoffmann. Es geht um die verwitwete Gräfin von Schwerin, die letzte Herrin auf Schloss Stolpe. Sie flüchtet 1945 vor der Roten Armee nach Lüneburg in den Westen. Als die Gräfin 1957 stirbt, soll sie wunschgemäß in ihrer märkischen Heimat bestattet werden. Der Transport über die deutsch-deutsche Grenze wird zur verwickelten Reise als „Stückgut“ zum heimischen Dorffriedhof. Eine wahre Begebenheit, dem Leben abgeschaut. Eine maßgeschneiderte Geschichte für Wolfgang Kohlhaase. Er machte daraus eine heiter-makabre Erzählung über Nachkriegszeit und deutsche Teilung. Die Lesung mit Jutta Hoffmann und Wolfgang Kohlhaase soll ein lebhafter Nachmittag gewesen sein. Ich wollte hin, hatte den Sonntag verpasst. Zu spät! Keine drei Tage später ist Kohlhaase tot.
„Wer nicht mehr neugierig ist, der ist alt“, sagte der Drehbuchautor und Schriftsteller einmal. In diesem Sinne war der waschechte Berliner aus Adlershof bis zuletzt jung geblieben. Er überlebte 91-jährig drei politische Systeme und hielt sein Leben lang klaren Kurs. Vater Kohlhaase, ein Maschinenschlosser, förderte sein Talent. Wolfgang volontierte gleich nach Kriegsende bei dem neuen Magazin „Start“, später bei der „Jungen Welt“. Da war er sechzehn. Beide Zeitungen trugen einen programmatischen Titel. Start, Neuanfang, eine bessere Gesellschaft aufbauen, ohne Willkür, aber mit Gedankenfreiheit. War das nicht ein wunderbares Ziel? Kohlhaase landete bald als Geschichten(er)finder bei der neuen DEFA in Babelsberg, der Traumfabrik des Sozialismus, dem märkischen Hollywood.
Den Berliner interessierten nicht große Abenteuer- oder Liebesdramen. Kohlhaase suchte und fand seine Stoffe vor der Haustür. Er beschrieb Menschen, „die durch die Welt geweht wurden“. Er fragte sich und sein Publikum, wie die kleinen mit den großen Geschichten zusammenhängen. „Filmemachen ist eine Reise des Herzens, zu der man das Publikum einlädt“. So schilderte er seine Heldinnen und Helden mit Respekt und aus nächster Umgebung. Texte, die stets stimmig waren: Treffsicher, schlagfertig, lakonisch. Wirklichkeitsnähe war für Kohlhaase kein Marketing-Versprechen, sondern sein Markenzeichen. Ob als deutscher Soldat Gregor in „Ich war neunzehn“ oder bei „Solo Sunny“, wo die schnoddrige Alte aus dem Hinterhaus Sängerin Sunny mit auf den Weg gibt: „Unterm Chauffeur ist schlimmer als unterm Auto“.
„Sommer vorm Balkon“. Take „Brauch ich nicht unbedingt…“
Wer kennt schon die Schreiberlinge? Die Kinostars stehen im Rampenlicht, können glänzen, werden berühmt. Doch die Akteure können nur so gut sein, wie die Geschichten und Schicksale, die sie verkörpern. Wolfgang Kohlhaase blieb wie so viele Drehbuchautoren der bescheidene Ideengeber im Hintergrund. Und doch fielen seine Texte auf, hatten stets eine eigene Handschrift. In „Sommer vorm Balkon“ erwartet der LKW-Chauffeur nach vollzogenem Akt von seiner neuen Bekanntschaft ein Frühstück. Ihre Ansage ist unmissverständlich: „Ist nicht im Preis inbegriffen und Tschüss!“
Wolfgang Kohlhaase blieb ewig jung. Im hochrespektablen Alter von Mitte Achtzig erzählte er die Geschichte einer Clique in der wilden Leipziger Nachwendezeit. Jugendliche zwischen Euphorie, Drogen und Depression. „Als wir träumten“ (2015), verfilmt von Andreas Dresen, ist typisch für den Mann, dem es gelang, Menschen wie dir und mir ein Gesicht zu geben. Und tollen Stoff zum Träumen.