Hemingway in Charkiw
Was kann Literatur in Kriegszeiten bewirken? Die erste Aufgabe ist es, Augenzeuge zu sein. Festhalten, was geschieht. Die zweite muss sein, zu reflektieren, was möglich wird, was anders gemacht werden kann, was zu lernen ist. Das Internet ist voll mit russischen und ukrainischen Texten. Fast 80% der aktuellen Texte sind Kriegserzählungen, Liebesgeschichten fehlen. „Krieg zerstört die Sprache. Das führt zur Sprachlosigkeit“, sagt Serhij Zhadan. Schreibender, singender und freiwilliger Helfer an der Front. Ein mehr als aktiver Poet aus Charkiw. Seine geschundene Heimatstadt im Osten der Ukraine steht seit dem ersten Tag des Überfalls unter Beschuss. Doch die Charkiwer geben nicht auf, obwohl die Russen ihre Stadt seit seinem halben Jahr in ein Trümmerfeld verwandeln. Mittlerweile kehrt die Sprache zurück, sagt Zhadan, den man gut und gerne als Campino der Ukraine bezeichnen kann. Zhadans Kultband heißt übrigens „Hunde im Weltall“.
Sein soeben erschienenes Kriegstagebuch Himmel über Charkiw geht unter die Haut. Darin schildert er Belagerung, Beschuss und den Behauptungswillen einer jungen, multikulturellen Millionenstadt aus der Sicht eines Augenzeugen . Seit dem 24. Februar 2022 wird Charkiw beschossen: Wohnhäuser, Universitätsgebäude, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Sportanlagen, Kirchen, Theater, Kinos, Denkmäler, einfach alles. Der Himmel über Charkiw verdunkelt sich an vielen Tagen. Zhadan erklärt mir seinen Buchtitel Himmel über Charkiw wie folgt: «Himmel“ ist eine sehr universelle Metapher, es ist ein poetisches Wort. Aber gleichzeitig ist es eine sehr poetische Wahl. Seit dem Beginn dieses Krieges, dem Großen Krieg, nach dem Angriff Russlands, ist der Himmel für uns, für diejenigen, die in der Frontstadt Charkow leben, zu einer Quelle der Hoffnung geworden. Denn wenn der Himmel klar ist, gibt es keine Flugzeuge, keine Raketen, das bedeutet, dass alles in Ordnung ist. Aber es ist auch eine Quelle von Angst und Gefahr. Weil die Raketen von dort kommen. Dementsprechend schauen wir alle in den Himmel.“
Vor allem die Kinder von Charkiw hatten in den ersten Wochen Angst. „Sie haben geheult. Sie blieben in der U-Bahn. Viele leben bis heute in den Metroschächten“. Das Verrückte sei, so Zhadan, dass junge wie alte Charkiwer rasch den Umgang mit dem Krieg lernten. „Wir sind so stark wie noch nie. Wir betreuen das kulturelle Leben. Wir singen mit Kindern. Wir veranstalten literarische Feste und Lesungen. Menschen, auch Soldaten, brauchen Kultur. Wir organisieren zum Beispiel das Projekt „Charkiw Nummer 5“. Viele Künstler würden aber auch mit der Waffe an der Front kämpfen. Es sei ein „Volkskrieg“. In seinem Tagebuch notiert er am 14. März 22 über seine Stammkneipe: „Das Aushängeschild verkündet (natürlich auf Russisch): „Staryi Hem. Kaltes Bier, heiße Mädchen. Was für eine ideale Reklame. Ich mochte das Lokal sehr: ziemlich unprätentiös, dafür immer lebendig und fröhlich. Im Winter 2014 war es praktisch das Hauptquartier des Euromaidan. Am Hem stand ein Hemingway-Denkmal. Das habe ich immer Besuchern gezeigt. Im Sinne von – das gibt´s nirgends sonst, nur bei uns. Heute haben sie das Gebäude getroffen. Die Rede ist von Opfern, Verschütteten, Toten und Verletzten.“
Wem die Stunde schlägt. Aufzeichnungen aus einem Krieg. Serhij Zhadan hält in seinen atmosphärisch dichten Notizen fest, wie sich seine Heimatstadt erfolgreich wehrt. Wie sie sich nicht den Traum nehmen lässt, Hemingway, das Hem und die ganze zerstörte Kultur wieder neu und noch glanzvoller aufbauen zu wollen. Wer verstehen möchte, was in der Ukraine geschieht, ist bei Serhij Zhadan bestens aufgehoben. Für sein „Kriegstagebuch“ wird dem 48-jährigen Rockpoeten auf der Frankfurter Buchmesse der „Friedenspreis“ verliehen. Es mag widersprüchlich klingen. Doch dieser Krieg ist selbst ein einziger Widerspruch. Geführt von Machthabern in Moskau, die im Namen des Antifaschismus ihren Nachbarn mit Raketen, Bomben und Lügen von sich selbst befreien wollen. Antwort Zhadan im Tagebuch: „Charkiw wird weiter eine Stadt der Dichter und Universitäten sein, ihr werdet sehen. Über der Stadt weht weiter die Staatsflagge. Die russische große humanistische Kultur sinkt auf den Grund wie die schwerfällige Titanic.“