Unter Nachbarn
Unser Haus ist ein typisches Berliner Mietshaus. Gründerzeit. Anfang des 20. Jahrhunderts in die märkische Erde gepflanzt. Schickes Vorderhaus, enger Hinterhof, begrünte Brandwand. Zwei Seitenflügel, drei Aufgänge, kein Fahrstuhl. Vorne bürgerlich-großzügig, typisch Wilmersdorf. Die Treppenhäuser in den beiden Seitenflügel sind deutlich schmaler, die Hinterhofwohnungen kleiner, aber preiswerter. Die gut vierzig Mitbewohner – groß und klein, alt und jung, sind so unterschiedlich wie die Stadt. Vom BVG-Ruheständler über die Bosnierin, parterre rechts, die vor Krieg und Vertreibung geflüchtet ist, bis zu mir als Fernsehmenschen ist eine bunte Mischung vertreten. Wir kommen in der Regel gut klar. Einmal im Jahr gibt es ein Hoffest. Jede/r bringt etwas mit, bis Würstchen, Kartoffelsalat, Bier und Wein, Klatsch und Tratsch erledigt sind. Das Aufräumen machen immer nur einige wenige und die immer gleichen. Egal. Ein Haus zum Wohlfühlen? „Hier kannste nicht meckern“, meint eine unserer Wilmersdorfer Witwen. Mehr Lob geht nicht.
In unserem Haus Gieselerstraße 16 wohnten einmal zwanzig Menschen, die allesamt Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre verschwanden. Sie hießen Marie Eisner, Albert Fraenkel, Johanna Friedmann, Julius Hans Heymann, Cere Jacobsohn, Edith, Marianne und Walter Koeppler, Lange, Gertrud Moll, Hugo Philipps, Louise Schönlank, Leo Schlesinger, Gertrud Schumlowitz, Irma und Wolf Max Silberstein, Hilde Traugott, Alice Vandsburger, Meta Wisztnicki und Irma Wolfsohn. Auch sie träumten vom kleinen und großen Glück. Was diese früheren Bewohner unseres Hauses vereint: sie wurden abgeholt, verschleppt, viele in den Tod geschickt, weil das NS-Regime es so wollte. Ihre Namen stehen in einer kleinen Broschüre aus dem Jahre 1987 von Udo Christoffel. Berlin-Wilmersdorf. Die Juden. Was aus den Menschen geworden ist, wissen wir nicht. Nur drei Schicksale konnte mittlerweile unsere kleine Anwohnerinitiative klären.
Das Ehepaar Phillips wurde gegen ihren Willen in eine Einzimmerwohnung zwei Häuser weiter umquartiert. Weiterer Verbleib unbekannt. Am 5. August 1942 holte die Gestapo zwei Bewohner aus unserem Haus ab: die 64-jährige Irma Silberstein und ihren 71jährigen Ehemann Max. Das Ehepaar wurde nach Theresienstadt deportiert, schließlich im KZ Treblinka ermordet. Ein Nachkomme aus den USA besuchte vor einigen Jahren unser Haus. Für die beiden Silbersteins konnten vor unserer Haustür zur Erinnerung zwei zehn auf zehn Zentimeter große Messingschilder verlegt werden. Diese kleinen Mahnmale, besser bekannt als Stolpersteine, werden jedes Jahr geputzt. Am 9. November, dem Jahrestag der Reichpogromnacht, zünden Nachbarn Kerzen neben den Stolpersteinen an. In unserer Straße leuchten in dieser Nacht viele Kerzen vor den Häusern. Manchmal werden sie umgestoßen.
Die Stolpersteine sind das Verdienst von Gunter Demnig. Der Mann mit dem Filzhut hat mittlerweile über 96.000 Stolpersteine in mehr als dreißig Ländern verlegt. Was vor über dreißig Jahren mit einem ersten Erinnerungsschild auf dem Pflaster vor einer Kölner Haustür begann, zum Ärger der damaligen Behörden, hat eine große Laiengeschichtsbewegung in Gang gesetzt. Die Stolpersteine sind inzwischen weltweit das größte dezentrale Mahnmal an die Nazi-Verbrechen. Jeder Stein ehrt ein Opfer. Genau dort, wo die Menschen zuletzt lebten. Jeder Stein ist handgemacht. Ein Messingblech aus einem Millimeter Stahl wird in Beton verankert, um einen gewissen Schutz gegen Diebstahl oder Vandalismus zu gewährleisten.
Demig sagt gegen alle Kritik: „Die Stolpersteine sind keine Grabsteine.“ Sie sollen die aktive Erinnerung fördern: Wer hat hier gewohnt? Was wurde aus meinen früheren Nachbarn? Der gebürtige Berliner Gunter Demnig erntete Auszeichnungen, aber auch immer wieder Ärger mit Hauseigentümern, Behörden sowie mehrere Morddrohungen. Rund 800 Steine wurden beschädigt, sie sind längst ersetzt. Ein Kölner Pfarrer ermunterte den in Hessen lebenden Künstler, als er mit der Aktion begann: „Die Million wirst du wohl nicht schaffen, aber man kann ja klein anfangen.“ Demnig ist nun 75 Jahre alt geworden. Seine Mission will er fortführen, solange die Knie mitmachen. Im Juni 2023 plant er, mit seinem elfköpfigen Team den 100.000 Stolperstein zu setzen.
Vor unserem Haus sind zwei Stolpersteine verlegt. Es sollen mehr werden, sobald wir genaueres über das Schicksal der anderen verschollenen Nachbarn wissen.
Schön geschrieben Christhard,
ganz wichtig dass die Menschen die unter welchen Umständen wie immer damals hier wohnten, nicht sang- und klanglos verschwunden sind. Das sind wir ihnen allen schuldig. Solange die Namen genannt werden „gibt“ es sie noch.
Ein guter Artikel, wenn ich in der bambergerstr. entlang gehe, verweile ich immer an den stolpersteinen und lese die Eckpunkte des Lebens dieser Bewohner. Bei uns in Hameln gibt es auch viele.