Ihre Pfandflasche bitte!

Als Großstädter legt sich man sich im Laufe der Jahrzehnte eine dicke Haut zu. Sonst dreht man durch. Überall Tempo, Hektik, Enge, Glanz und Elend. Blitzschnelle Wechsel der Gefühle. Wer unterwegs ist, trifft im Zeitraffer Paradiesvögel, Aufschneider, schräge Typen und sonderbare Zeitgenossen. Armut ist ein ständiger Begleiter in U- und S-Bahnen. Geschnorrt und gebettelt wird überall: an Bahnhöfen und Übergängen, vor Geldautomaten und Supermärkten. Die Habenichtse versuchen es mit Musikeinlagen, Straßenzeitung oder einem treuherzigen Hund. Geld kannst du loswerden: morgens auf dem Weg zur Arbeit, abends auf dem Nachhauseweg. Ratsam ist ein gehöriger Schuss Gleichgültigkeit. Problem nur: Die Seele vernarbt. Aber wer kann schon allein die Welt retten?

 

Morgens am S-Bahnhof Savignyplatz in Berlin. „Schau mal, der fotografiert einen Penner mit Bier“, zischelt eine Touristin. Am Abend dieses 10. Novembers 2022 lerne ich am Bahnhof Friedrichstraße eine Rentnerin kennen.

 

Neulich war alles wie immer und dann doch ganz anders. Den Tag über wurde ich vier- oder fünfmal um einen Obolus gebeten. Wie immer die Strategie Kragen hoch, Blick ins Nichts und zügig weitergehen. Bloß keine Reaktion zeigen. Da spricht mich plötzlich auf dem Bahnsteig in den abendlichen Rushhour-Stunden eine ältere Dame an. Sie wirkt ausgesprochen ordentlich. Sie wird mich wohl nach dem Weg fragen, hat sich vielleicht in Berlin verlaufen. Irrtum! Sie fragt mich nach einer Pfandflasche, ob ich ihr eine geben könne. Ich verneine. Was ist mit Ihnen los, frage ich. „Meine Rente ist so klein“. Ob sie keine Familie habe? – „Ja, doch. Eine Tochter. Sie ist mit ihren beiden Kindern ausreichend beschäftigt.“ Ich frage, ob sie Berlinerin ist. – „Ja, aus Lankwitz“. Dieser Stadtteil im Südwesten ist so ordentlich wie die Frau, die mich mit großen Augen überrascht anschaut. Ich blicke vermutlich genauso perplex zurück.

 

Gibt es Zufallsbegegnungen? Oder ist es doch mehr? Ein Fingerzeig… vielleicht. Foto: Dirk_Kortus

 

Nach einer kurzen Pause setzt sie an: „Ich bin Rentnerin, davon kann ich einfach nicht leben.“ Sie spürt meinen kritischen Blick. „Ich bin seit 17 Jahren Erwerbsminderungsrentnerin. Da bleibt nicht viel übrig. Ich muss von 579 Euro im Monat leben.“ Ich biete ihr ein Fisherman Friends-Bonbon an. „Geht nicht“, wehrt sie ab. „Zucker ist für mich Gift. Ich habe den Magen einer Hundertjährigen. Alles rausgeschnippelt. Ich darf praktisch nichts mehr essen und trinken. Keine Süßigkeiten, kein Fleisch, kein Alkohol, einfach nichts.“ Wir schauen uns ratlos an. Die Frau wird vermutlich Ende sechzig sein. „Ich bekomme keine Hilfe. Ich bin ganz auf mich allein gestellt.“ Ich krame in meinem Portemonnaie, gebe ihr einige Euros und meine Visitenkarte. Ich sage, ich kenne einige gute Sozialeinrichtungen, die helfen könnten. Sie schaut auf den Boden. Mein Zug fährt ein. Wir verabschieden uns grußlos. Ihr Blick sagt: An wen bin ich denn da geraten? Ich steige in die Bahn, schaue nach ihr. Die Frau mit dem hundertjährigen Magen ist verschwunden.

 

 

Diese Zufallsbegegnung geht mir bis heute nach. Ich muss an Hans Fallada denken, der die Not der Menschen vor hundert Jahren so eindrucksvoll geschildert hat. Einfache Menschen, die unverschuldet in den Strudel der großen Krisen geraten sind. Menschen, die anständig bleiben wollten in Zeiten, in denen die Dreisten glänzende Geschäfte machten. Falladas Roman »Kleiner Mann – was nun?« erschien 1932. Auf Seite 372 heißt es:

„Was soll man tun in einer Stadt, die einen nichts angeht, als hübsch bei sich zu Haus zu bleiben, bei den eigenen Sorgen? Läden, in denen man nichts kaufen kann. Kinos, in die man nicht rein kann, Cafés für Zahlungsfähige, Museen für Anständiggekleidete, Wohnungen für die anderen, Behörden zum Schikanieren – nee Pinneberg bleibt hübsch bei sich zu Haus.“

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