Letzte Worte
Vor wenigen Tagen verurteilte ein russisches Gericht den Oppositionellen Alexej Nawalny wegen „Extremismus“ zu neunzehn Jahren Straflager. Der Prozess fand in einem improvisierten Gerichtssaal im Straflager Melechowo unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In seinem Schlusswort sprach er von einer „stalinistischen Haftstrafe“ und sagte über den Schauprozess: „Die Zahl spielt keine Rolle. Ich verstehe sehr gut, dass ich, wie viele politische Gefangene eine lebenslange Haftstrafe verbüße.“ Nawalny hatte 2020 einen Nervengiftanschlag nur knapp überlebt. An die Öffentlichkeit richtete der 47-jährige folgenden Appell: „Verliert nicht den Willen zum Widerstand.“
Das System Putin bricht mit geradezu stalinistischer Härte jegliche Versuche von Widerstand und Opposition. Das Recht wird gebeugt. Nach § 293 der russischen Strafprozessordnung haben Angeklagte jedoch das Recht auf ein letztes, unzensiertes Wort vor Gericht. Ein kafkaesker Vorgang, da die Beschuldigten alles haben, nur nicht die Chance auf ein faires Verfahren oder Urteil. Wer sich fragt, wo in Russland Menschen sind, die sich gegen Willkür, Repression und Verfolgung in Putins Reich wehren, muss diese Stimmen kennenlernen. Sie zeugen von Mut, Unbeugsamkeit und Zivilcourage. Mut zum offenen Widerspruch gegen Putins Kriegspropaganda trauen sich nur wenige, auch deshalb, weil jeder Protest vom Regime mit aller Härte bestraft wird. Drei Beispiele möchte ich stellvertretend vorstellen.
Maria Ponomarenko, 44, Journalistin aus Westsibirien. Mutter zweier Kinder; zu sechs Jahren im Straflager Nr. 22 in Krasnojarsk verurteilt. Ihr Vergehen: Sie hatte einen Beitrag über den russischen Luftangriff auf das Theater von Mariupol verbreitet.
Letzte Worte vor Gericht am 13. Februar 2023:
„Wenn es einen Krieg gibt, sollte man ihn auch beim Namen nennen. (…)
Glauben Sie, ich werde weinen und in Hysterie verfallen, weil Sie mich zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilen? Nein. Das ist nur ein neuer Lebensabschnitt. Und glauben Sie mir: Hinter Gittern gibt es viel mehr anständige Menschen als in der Regierungspartei Einiges Russland.“ (…)
Wir sehen uns in Freiheit! Nie sind totalitäre Regime so stark wie kurz vor ihrem Zusammenbruch.“
Alla Gutnikowa, 25. Ehemalige Studentin einer Moskauer Eliteuniversität. Ehem. Redakteurin der Studentenzeitung »Doxa«. Sie wurde zu Hausarrest verurteilt, konnte fliehen. Urteil in Abwesenheit: zwei Monate Straflager + zwei Jahre „Besserungsarbeit“. Ihr Vergehen: Sie hatte mit zwei weiteren Frauen in einem Video die Exmatrikulation von oppositionellen Studenten kritisiert.
Letzte Worte am 3. April 2022:
„In meinem Französischkurs an der Uni bin ich mal auf eine Liedzeile von Édith Piaf gestoßen: »Ça ne pouvait pas durer toujours« – es konnte nicht ewig so weitergehen. Als ich 19 war, fuhr ich nach Majdanek und Treblinka. Dort lernte ich, wie man »никогда больше« sagt, in sieben verschiedenen Sprachen. Never again. Jamais plus. Nie wieder. רעמ לאמנייק. Nigdy więcej. דוע אל. Später lernte ich ein paar weitere wichtige Lektionen. Erstens: Wörter haben Bedeutung. Zweitens: Man muss die Dinge beim Namen nennen. Und schließlich: sapere aude – habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen.“ (…)
„Wiederhole, für dich und andere: Zwei plus zwei ist vier. Schwarz ist schwarz. Weiß ist weiß. Ich bin ein mutiger, starker Mann. Ich bin eine mutige, starke Frau. Wir sind mutige, starke Menschen. Freiheit ist eine Entwicklung, in deren Verlauf man lernt, sich nicht unterjochen zu lassen.“
Wladimir Kara-Mursa, 41, Historiker/Politiker aus Moskau. Überlebte zwei Giftanschläge. Festnahme im April 2022. Urteil: 25 Jahre Lagerhaft. Sein Vergehen: Kurz nach dem Überfall auf die Ukraine hatte Kara-Mursa mit anderen Regimekritikern ein »Komitee gegen den Krieg« gegründet.
Letzte Worte am 10. April 2023:
„Während meiner Vernehmung hier vor Gericht hat der Vorsitzende Richter mich daran erinnert, dass ich, wenn ich für die von mir begangenen Taten Reue zeige, auf mildernde Umstände hoffen könne. Obwohl ich zurzeit wenig zu lachen habe, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Verbrecher sollten Reue zeigen. Ich aber bin im Gefängnis wegen meiner politischen Ansichten. Wegen meiner Auftritte gegen den Krieg in der Ukraine. Wegen meines langjährigen Kampfes gegen Putins Diktatur.“ (…)
„In seinem Letzten Wort bittet man normalerweise um Freispruch. Für jemanden wie mich, der kein Verbrechen begangen hat, wäre Freispruch auch das einzig legitime Urteil. Aber ich bitte dieses Gericht um nichts. Ich kenne mein Urteil. Ich kannte es bereits vor einem Jahr, als ich im Rückspiegel Männer in schwarzen Uniformen und mit Masken sah, die hinter meinem Auto herliefen. Das ist in Russland der Preis dafür, dass man nicht schweigt.“
Wer mehr über „letzte Worte“ in politischen Schauprozessen erfahren will, findet im ZEIT-Dossier „Sogar in diesem Käfig liebe ich mein Land“ beeindruckende Beispiele. Sie erzählen von Menschen, die seit Kriegsbeginn versuchen, Putins zerstörerischem Kurs Einhalt zu gebieten, selbst wenn es ihre persönliche Freiheit kostet.