Leipziger Allerlei
Regen peitscht aufs Kopfsteinpflaster. Ein einsamer Pianist trotzt der Nässe. Er intoniert Evergreens vor der Leipziger Nikolaikirche. Dort, wo 1989 die friedliche DDR-Revolution ihren Ausgang nahm. Wenige Passanten eilen vorbei. Es ist Buchmesse, die Stadt gerade leergefegt. Spiel´s noch einmal, Sam. Das Lied trägt mich weiter. Dabei ist Leipzig die ganzen Tage über voll. Rund 300.000 Buchfreaks oder Cos-Player in Manga-Kostümen bevölkern Messehallen. Abends stürmen Heerscharen abertausende Veranstaltungen in der Innenstadt. Von queerer Literatur in Sachsen bis zur probiotischen Quarkherstellung ist alles dabei. Die Veranstalter kloppen bei ihrer Bilanz in die Marketingtasten. „Besucherplus. Das Buch wird gefeiert. Ein Fest der Demokratie.“ Tatsächlich feiert Leipzig nach vier verunglückten Pandemiejahren ein Comeback. Erfreulich: Es gibt immer noch genügend Menschen, die schreiben und noch viel mehr Publikum, das zuhört.
Der Trend? Die längsten Schlangen finden sich an Ständen, die New Romance oder New Adult feilbieten. Ganz einfache Geschichten von der Suche nach dem Märchenprinzen. Das sind die diesjährigen Renner. Titel wie Infinity Falling, Save me, save you, save us gehen bei der jungen weiblichen Zielgruppe weg wie warme Semmeln. Die 28-jährige Sarah Sprinz vom Bodensee verkauft bis zu 750.000 Exemplare pro Herz/Schmerz-Titel. Die Medizinerin Sprinz und ihre Kolleginnen legen großen Wert auf Gendern und Diversität. Keine Gruppe oder Minderheit dürfe sich durch irgendetwas ausgegrenzt oder beleidigt fühlen. Dafür sind bis zu fünf Sensitivity-Readers im Einsatz. Jedes Wort wird gecheckt.
In der neuen Romantik-Wohlfühl-Kuschelwelt sind Warnhinweise obligatorisch. Da heißt es vorab: „Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Diese sind: Tod, Verlust, Trauer und Trauerbewältigung, Substanzmissbrauch und Abhängigkeit. Bitte lest dieses Buch nur, wenn ihr euch momentan emotional dazu in der Lage fühlt.“ Zur Sicherheit folgt die Nummer der Telefonseelsorge. So bleibt die reale Welt mit Krieg, Krisen und Klimakatastrophen oder Armut, Not und Elend – draußen vor der Tür. Mehr echtes Gefühl, weniger Müll. Das geht vorzüglich. So verdienen renommierte Verlage mit New-Romance-BookToks ihre Brötchen.
Was gibt es für alle diejenigen, die keinen Prinzen oder Prinzessin suchen? Natürlich finden sich zeitlose Helden wie Dr. Kafka (100. Todestag) oder die neuen Lieblinge der Feuilletons wie Barbi Mirkovic („Minihorror“) und Iris Wulff („Lichtungen“). Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm ist einer der Stars des 2024er Jahrgangs. In Zeiten von Multikrisen und allgemeinem Missvergnügen lockt der Preisträger des Buchpreises zur Europäischen Verständigung die Massen magisch an. Böhm predigt gegen Rückzug, Identitätsblasen und Eskapismus. Sein Zauberwort: Freundschaft. Wie bei Lessings Nathan den Weisen, Immanuel Kant oder Hannah Arendt. Aufklärung und Menschlichkeit sind für ihn der einzige Maßstab, der zählt. Eine Ansage gegen den Zeitgeist, der da heißt: Jeder für sich in seinem Zirkel. Gegen nationale Alleingänge, Säbelrasseln und die Zersplitterung in zahllose Identitäten. Vor allem aber gegen den Hass als Motor der Internet-Gesellschaft.
Was für ein Traum! Das Vertrauen in das Menschliche wiedergewinnen. Dafür braucht es Kitt, sagt Omri Boehm, der im Turbo-Kapitalismus verloren zu sein scheint: Freundschaft. Plus den Willen zur offenen Kommunikation. Wahre Freundschaft zeige sich eben darin, dass man sich die Wahrheit sagen könne. Ohne Verletzung oder an den Pranger gestellt zu werden und – ohne die Salven unserer aufgedreht-hysterischen Debatten sofort abzufeuern: … „das ist jetzt aber faschistisch/rassistisch/antisemitisch etc.“
Wäre doch ein Ziel? Ach, sagt mir die Manga-Truppe auf der Messetreppe. „Wenn Du Dich als Cos verkleidest, wirst du gleich ein anderer Mensch. Jedenfalls hier in Leipzig.“ Kann es sein, dass sie hinter ihren Masken lächeln?