Juniabend. Klunkerkranich. Berlin-Neukölln

Geile Zeit

Wer sich am Rathaus Neukölln aus der U-Bahn schält, taucht in einer anderen Welt auf. Der Orient ruft. Schnurstracks geht es über die wuselige Karl-Marx-Straße zu einem in die Jahre gekommenen Kaufhaus. Dort muss irgendwo ein Fahrstuhl sein. Wo geht´s bitte zum Klunkerkranich, frage ich die bunt geschminkte Kosmetikverkäuferin mit Kopftuch. „Hey Bruder, da war ich noch nie. Aber irgendwo da hinten, zwischen New Yorker und Lidl ist ein Lift. Krass, checke Parkdeck 5.“ Oben angelangt, suche ich nach dem Zugang ins gelobte Land. Am Ende der dunklen Hochgarage, startklar für jeden Tatort-Dreh, steht: Zur Lesung „Geile Zeit“. Da will ich hin. Eine gepiercte Lady fragt gelangweilt: Wo willste hin? – Ich bin verdutzt. Kennen wir uns irgendwo her? – „Ja, seit gerade eben. Stehste auf der Gästeliste?“ – Ja. Die Neukölln-Frau wischt ein, zwei Mal über ihr Handy. „Kann Dich nicht finden. Aber ich hab meinen sozialen Tag.“ Sie händigt mir ein grünes Bändchen aus. Ich gehöre dazu.

 

Klunkerkranich. Treff der Jungen, Schönen, Erlebnishungrigen. Über den Dächern der Stadt, der Alltag bleibt unten. Foto: Klunkerkranich.

 

Der Klunkerkranich ist in Neukölln ganz oben. Auf dem Sonnendeck eines angegrauten Konsumtempels. Blick auf Tutti Berlin. Fernsehturm, Häusermeer und dramatische Wolkenformationen. Der Alltag bleibt unten. Dazu Aprilwetter im Juni. Sonne, Regen, Blitz, Donner und – ah,oh – ein Regenbogen. Ein renommierter Verlag feiert eine Vorab-Premiere. Geile Zeit von Niclas Seydack, Jahrgang 1990. Millennial. Mir wird rasch klar, dass ich den Altersdurchschnitt heftig nach oben treibe. Ein paar liebe Kollegen aus der mittleren Generation puffern mein Alter-Weißer-Mann-was-willst-du-hier-Dasein.

 

Buchpremiere. Geile Zeit mit Flamingo im Klunkerkranich über den Dächern Berlins.

 

Es geht los. Der coole Moderator kündigt ein wichtiges Werk an. Es gehe um die Selbstverpanzerung einer ganzen Generation in Zeiten einer bösen Welt draußen. Von Fluchten aus der Wirklichkeit in die Welt der Flamingos und Streaming-Helden ist die Rede. Die Millennials seien die letzte Generation, die noch ohne Smartphone aufgewachsen seien, aber die erste, denen es schlechter gehen werde als ihren Eltern. Okay, Boomer. Ihr seid schuld! Also ich. Die Babyboomer sind während der Buchpremiere der große Elefant im Raum. Sie gelten als abgehoben, besserwisserisch, selbstgerecht. Ohne Verständnis für die Sorgen der heute Dreißigjährigen. Ihr ständiger Zeigefinger an die Jungen, sie hätten Luxussorgen gepaart mit dem Vorwurf verwöhnte, wehleidige Wohlstandskinder zu sein.

Dann legt Niclas, der Star des Abends los. Aufgewachsen in einem Reihenhaus in Bad Schwartau – ja die Marmeladestadt – pendelt und schreibt er zwischen Berlin und München. Zeit, Spiegel, Elf Freunde, er spielt in der ersten Liga der Medien. Selbstironisch, witzig, abgeklärt. „Kindheit in den 90ern. Mit Lego, Nutellabroten und Samstagabend mit der Familie Wetten, dass…? Eine Idylle. Bis zum 11. September 2001. Dann Schweigeminuten in der Schule und die erste Liebe auf ICQ.“ Niclas beschreibt ein Leben mit verkürztem Studium, unbezahlten Praktika und Berufsstart im Lockdown. Überhaupt: Leben in Unsicherheit. Dauerkrisen: Finanz-, Terror-, Klima-, Migration-, Inflation-Albträume + Pandemie. Dazu eine neue starke Rechte. Schließlich Kriege. Es gilt: Je düsterer die Zukunft, desto knalliger die Klamotten, umso trashiger die Serien und häufiger die Therapien. Willkommen im Leben der Millennials.

 

 

Früher habe das Fernsehen den Horror nach Hause gebracht: Vietnamkrieg, Tschernobyl, 11. September. Heute trage TikTok den täglichen Horror frei in jede Kinderstube. Niclas schreibt über seine Jugendzeit mit Stefan Raab, Lena Meyer-Landrut und Eimersaufen. Wichtig sei: Eklig, ironisch und stets distanziert bleiben. Abstand halten. Häufig fällt das Wort Angst-Biografien, ein Merkmal der Millennials. Eine Mischung aus Sensibilität und Verletzlichkeit. Typisch sei der Peter-Pan-Effekt: Man weigere sich, erwachsen zu werden. Das junge Publikum im Klunkerkranich gurrt und lacht befreit auf. Genauso ist es wohl!

 

IUMA. Neuer Stern am Pop-Himmel. Ihr Motto: „Verletzlichkeit und Unsicherheit zu akzeptieren, gar zu feiern.“

 

Komisch. Geile Zeit-Autor Niclas Seydack lobt an diesem Abend mehrfach seinen Vater. Er sei verständnisvoll, nicht belehrend, kurz: ein echtes Vorbild. Das berührt mich ungemein. Mein zweiter Sohn ist gerade 31 geworden. Exakt ein Millennial wie er im Buche steht. Ich will ihm unbedingt Geile Zeit zum Geburtstag mitbringen. Aber nach der Lesung sind sofort alle Exemplare weg. Ich war zu langsam. Tja, Boomer. Schneller sein, sonst ist alles zu spät.

Niclas Seydack. Geile Zeit. Ab Mitte Juli 2024 bei Tropen.

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