Archive for : Juli, 2024

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„Wirds besser?“

„Wirds schlimmer? Leben ist immer lebensgefährlich.“ Einer der vielen Erich Kästner-Sätze, die mich ein Leben lang begleiten. Seit ich lesen und einigermaßen denken kann, ist Kästner mein treuer Weggefährte. Aus seinem „Emil und die Detektive“ habe ich mit acht oder neun Jahren meine erste Kurzgeschichte zusammengebastelt. Mit Bleistift und Radiergummi im kleinen schwarzen Oktavheft, liebevoll „Muttiheft“ genannt. Ich hatte seinen Emil  mehr oder weniger übernommen, nur einige Varianten waren neu und ein paar Namen. Egal. Die Erwachsenen lobten mich, meine Eltern nickten beifällig, meine Tante spendierte ein Eis. Später sah ich ein Fernsehporträt in Schwarz-Weiß. Schriftsteller Kästner saß mit Anzug und Hut in den Bergen auf einer Holzbank mit Tisch. Er schaute Pfeife rauchend in die Ferne und paffte lustige Kringel in den Himmel. Dann kritzelte er ein paar Worte in ein Heft. So wollte ich auch werden. „Das ist das Leben. Das ist der Lauf. – Das ist der Lebenslauf.“

 

Erich Kästner. (23. Februar 1899 Dresden – 29. Juli 1974 München)

 

„Vergesst eure Kindheit nie! Versprecht Ihr mir das!“ Der lange kinderlose Kästner, erst mit sechzig wurde er Vater, bleibt für den Nachwuchs ein Held. Bis heute. Warum? Weil Kinder ehrlich sind, neugierig und weil sie eine Zukunft haben wollen und sollen. Im Fliegenden Klassenzimmer schreibt Kästner einen seiner typischen Merksätze: „Seid glücklich so sehr Ihr könnt. Nur: Macht euch nichts vor und lasst euch nichts vormachen.“  Erich Kästner hat viele Facetten. Als Kinderbuchautor, Verseschmied oder politischer Wachrüttler. Seine Lyrische Hausapotheke half dem jungen Marcel Reich-Ranicki nicht zu verzweifeln.  Seine Lebensgefährtin Teofila Langnas hatte im Warschauer Ghetto das gesamte Büchlein eigenhändig abgeschrieben, verziert mit Bildern und Titelblatt. Teofila und Marcel lasen sich gegenseitig aus Kästners Moral vor: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Literatur als Überlebenshilfe in größter Not.

 

Fabian, 1931 erschienen. Kästner erzählt über das Dilemma eines Moralisten in aufgewühlten Zeiten.

 

Kästner nannte sich selbst einen Moralisten, manchmal auch einen „gekränkten Idylliker“. Als ungebrochen pessimistischer Optimist wollte er stets für das Volk schreiben. Einfach, kurz, klar, ohne Umschweife, auf den Punkt kommend. Der gebürtige Dresdner sah den Ungeist der Nazis aufkommen, textete und dichtete dagegen an. Vergeblich. Seine Bücher wurden verbrannt. Er blieb dennoch im Lande, flüchtete in innere Emigration. 1943 gelang ihm ein Husarenstreich. Unter einem Pseudonym verfasste er das Drehbuch für Goebbels Film und Prestigeprojekt Münchhausen. Der Lügenbaron aus der Feder eines verfemten Dichters? Als der Coup aufflog, erhielt Kästner endgültig Publikationsverbot.

 

 

Kästner sei ein Autor, „der Auswege suchte, selbst wenn wirklich keine zu finden waren“, schreibt die Zeit in einer lesenswerten Würdigung. Ach, Kästner, Held meiner Kindheit, Freund bis heute: Wo bleibt denn heute das Positive? 1930 antwortete er mit einem seiner bekanntesten Gedichte: „Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt. Die Spezies Mensch ging aus dem Leime, und mit ihr Haus und Staat und Welt. Ihr wünscht, dass ich`s hübsch zusammenreime und denkt, dass es dann zusammenhält.“

Kästner lesen. Das hilft die Welt besser zu ertragen. Am 29. Juli 1974, vor genau fünfzig Jahren, hat der Mann mit Hut, Anzug und Pfeife unsere Welt verlassen. Der elegante Mann mit Notizheft, den ich als kleiner Knirps so bewunderte. Seine Werke bleiben. Wie schön!

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Sterne am rumänischen Himmel

Gute Geschichten erzählen sich von selbst, heißt es. Klingt verlockend einfach, ist jedoch keineswegs so leicht. Für die heißen Sommertage kann ich eine spannende und vielversprechende Entdeckungsreise empfehlen. Ein Buch wie eine Einladung. Keines, bei dem man ohne Gangschaltung einen hohen Berg hinaufstrampeln muss. Wie heißt es?  “Das Pfauengemälde”. Die Reise führt nach Rumänien. Für viele ein Land irgendwo im Hinterhof Europas, unbekannt, verwegen, fremd. Das Karpatenland hat jedoch mehr zu bieten als die üblichen Netflix-Klischees von Pferdewagen, Bären, billigen Arbeitskräften, Kriminellen, Neureichen und Securitate-Finsterlingen.

 

Maria Bidian: Das Land ihres Vaters ist Rumänien. Aus dem deutschen Exil zurück, zieht er sich in eine einsame Hütte zurück.

 

Das Roman-Debüt von Maria Bidian erzählt eine Vater-Tochter-Exil-Geschichte. Maria Bidian sagt mir: “Rumänien ist ein sehr herzliches, wildes Land. Wo gerade sehr viel passiert. Wo sehr viel im Aufbruch ist. Wo viele Menschen weggegangen sind. Menschen wieder hingehen. Die Gesellschaft sich gerade sehr verändert. Auf einmal kommen sehr viele Menschen aus Indien, aus Sri Lanka. Ich habe vorher dort nie Zugezogene gesehen oder Ausländer, die dort arbeiten. Also da verändert sich gerade sehr, sehr viel. Es ist sehr spannend und die Menschen sind schon auch hoffnungsvoll. Sie bauen sich ihre Häuser und wollen sich irgendwie ein Leben wieder aufbauen. Und wollen dazugehören zu Europa.”

 

Maria Bidian (*1988 in Mainz) über ihre Romaheldin Ana: „Was sie eigentlich interessiert, ist dieses  Pfauengemälde. Für sie ist das etwas, was sie mit ihrem Vater in Verbindung bringt. Er hat immer davon erzählt, es gehört zu ihrer Kindheit, es gehört zu ihren Momenten mit dem Vater.“

 

Im Mittelpunkt des Romans: Die junge deutsche Filmemacherin Ana. Sie begibt sich auf die Suche nach einem Pfauengemälde, einem verschollenen Erbstück ihres Vaters Nicu. Als sie von seinem einsamen Tod erfährt, entdeckt sie ihren Vater, ihre eigenen rumänischen Wurzeln und eine Vergangenheit, die fortlebt. Nicu war im kommunistischen Rumänien eingesperrt, flüchtete ins deutsche Exil, nahm seine verlorene Heimat mit, blieb Wanderer zwischen den Welten. Ein heimatloser Intellektueller. Ana, die in Deutschland aufgewachsen ist, trifft nun in Transsylvanien ihre weitverzweigte, lebhafte Familie mit Onkel, Tanten und Cousins. Der Beginn eines turbulenten Kampfes um die Nutzung eines Familienhauses. Siebzig Jahre enteignet und verwahrlost, selbst Toilette und Rohre waren herausgerissen worden. Wem gehört das Rumänische Haus? Was soll damit geschehen?

Maria Bidian sagt in unserem Gespräch: “Es ist eine Familiengeschichte, in der es um Familie und Freundschaft geht, aber auch um Verlustüberwindung und Trauerüberwindung. Und natürlich um das Rumänien der letzten Jahre, das heutige Rumänien. Und das wäre mein Wunsch, wenn viele unterschiedliche Menschen diesen Roman lesen und für sich etwas herausholen und danach Rumänien mit anderen Augen sehen.”

 

 

“Nirgendwo ist der Sternenhimmel so schön wie hier”, hatte Anas Vater schwärmerisch seiner Tochter erzählt. Schöner als in Deutschland? Das wird nicht verraten, auch nicht, ob Ana am Ende das Pfauengemälde wieder in den Händen hält. Aber was es noch zu betonen gilt: Maria Bidian ist eine wunderbare, leicht zu lesende und dennoch literarisch anspruchsvolle Erzählung gelungen. Mit viel Gefühl, Genauigkeit und Tiefgang. Für eine Debütantin ein bemerkenswert starker Einstieg.

Maria Bidian. Das Pfauengemälde. Roman. Zsolnay. 2024

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Die Kunst der Verführung

Können wir aus der Geschichte lernen? Oder tappen wir heute wieder in die gleiche Falle? Haben wir keine Schlüsse gezogen aus den Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern? Das neues Kino-Dokudrama „Führer und Verführer“ erzählt über die Kraft der Lügen und die Macht der Inszenierung. Dies sei ein Film für heute, heißt es. Es geht um die Geschichte der Verführung eines ganzen Volkes. Ein Meister der Inszenierung aus Deutschland war NS-Propagandaminister Joseph Goebbels. Robert Stadlober spielt diesen schreienden, schmeichelnden, genialisch verführerischen, abgrundtief hassenden Rheinländer mit Hut und Hinkefuß. Goebbels: „Propaganda ist eine Kunst wie die Malerei. Wir schaffen Bilder, die bleiben werden. Wir gehen in die Geschichte ein.“

In einer Mischung aus Spiel- und Dokumentarszenen zeichnet der gut zweistündige Film eine Innenansicht der geschlossenen Welt des Ehepaars Goebbels. Hitler (dargestellt von Fritz Karl) ist ihr Held, Fixstern und Bestimmer. Goebbels über Hitler: „Mein Hexenmeister hat wieder gezaubert“. Ein Trio Infernale, zu allem entschlossen, das so viel Anklang, Aufmerksamkeit und Gefolgschaft findet. Bereit für ihre „höhere Bestimmung“ alles zu tun, was befohlen wird. Der Weg ins Verderben ist kurz. Von „Deutschland erwache“ über Goebbels Sportpalastrede vom „totalen Krieg“ bis zur Götterdämmerung im April 1945. Der NS-Untergang mit Durchhalteparolen und einer nibelungischen „Treue bis in den Tod.“  Am Ende opfert Goebbels sich, seine Ehefrau Magda (Franziska Weisz) und deren sechs Kinder „für Deutschland“, wie es heißt.

 

 

Eine der Thesen des Films: Die Nazis haben äußerst erfolgreich Bilder, Legenden und einen Führer-Mythos geschaffen. Bilder, die bis heute in unseren Köpfen herumspuken. Das Goebbels-Gift wirke bis ins TikTok-Zeitalter nach, meint Regisseur Joachim A. Lang. Sein Film zeigt Hitler, Goebbels und Co nicht als Monster, sondern als „normale“ Menschen, nur so seien ihr Wesen und ihr Charakter besser zu erfassen. Denn das Nazi-System hätten Menschen erschaffen, keine Dämonen, wie es Thomas Mann einmal ausdrückte. Das bedeute im Umkehrschluss: Menschen können das Gewalt-, Willkür- und Propagandasystem auch verhindern. Regisseur Lang möchte den Kern des NS-Systems freilegen. Er will Goebbels „beim Lügen über die Schulter schauen“.

Wie werden wir resistent gegen die Kunst der Verführung? Mit ihren einfachen Parolen und schnellen Lösungen? Mit ständiger Angstmache, Hetze und dem Beschwören des ewigen Sündenbocks. Goebbels ließ Propagandastreifen produzieren wie „Jud Süß“, „Der ewige Jude“ oder „Kolberg“. Das kam an. Die Überlebende Margot Friedländer, mittlerweile biblische 102 Jahre alt, sagt am Ende des Films: „Menschen haben es getan, weil sie andere nicht als Menschen anerkannt haben.“ Und weiter: „Was war, kann so schnell wieder geschehen. Nur, wer die Gefahr der Verführung kennt, kann mit all den Einflüssen aus den Medien bewusst umgehen.“

 

 

So verhallt ihr Appell – „Sei ein Mensch“ – in der Dunkelheit des halbvollen Kinosaals. Draußen flanieren noch einige Berliner Nachtschwärmer. Ein junger Mann streitet am Smartphone lautstark mit seiner Mutter. Jeder kann es hören: „Papa hat mich Arschloch genannt. Und Du blendest das aus. Du bist im falschen Film.“ Irritiert ziehe ich weiter nach Hause, im Kopf die vielen Goebbels-Sprüche. „Führer und Verführer“ ist keine leichte Sommerkost. Aber ein wichtiger Film zur richtigen Zeit, aus dem man klüger herausgeht.

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Der Mutmacher

Zwei ältere Herren plaudern vor einer großen Leinwand in Potsdam. Anlass ist ein kleines, feines Literaturfestival mit dem Thema: „Vorwärts zur Natur.“ Was geht da ab? Nicht zurück zur Natur wie einst bei Jean-Jacques Rousseau, lautet das Versprechen: Nein, vorwärts zu neuen Ideen und Lösungen. In der ersten Reihe des Thalia-Kinos sitzt ARD-Literaturpapst Denis Scheck, der Leiter des Events. Der große Saal ist gut gefüllt. Ex-Berlinale Chef Dieter Kosslick versucht Filmemacher Volker Schlöndorff alles über seine Liebe zu Bäumen, das Geheimnis guter Filme und die Kunst des Geschichtenerzählens zu entlocken. Die meisten im Saal warten auf Schlöndorffs Doku-Film: „Der Waldmacher“. Es ist die Geschichte eines Australier, der eine patente Lösung für die Wiederaufforstung Afrikas gefunden hat. „Jeder Baum ist eine biologische Pumpe“, sagt Oscar-Preisträger Schlöndorff. Jedes Pflänzlein zählt. Davon erzählt sein Film.

 

 

Doch das Gespräch der beiden lebenserfahrenen Alten verlässt rasch den Wald, verliert sich im Tagesgeschehen. Schlöndorff wird gefragt, woher das große Unwohlsein komme, das unsere Gesellschaft befallen hat. Selbstmitleid, Jammern auf hohem Niveau oder berechtigte Sorgen? Schlöndorff zieht seine Stirn kraus. Warum kümmern wir uns nicht um Umwelt, Klima und andere wichtige Dinge der Daseinsvorsorge? Volker Schlöndorff holt aus, erinnert an seine wilden Jahre. An den Aufbruch in den 68ern. An Studentenrevolte, Aufbegehren und damit auch an neue, andere Filme. Mitte der siebziger Jahre dreht er „Die verlorene Ehre der Katharina Bluhm“, nach dem Roman von Heinrich Böll. Die CDU attackiert ihn als Sympathisanten der RAF. Viele Jahre später unterstützt er Angela Merkel als Kanzlerin. Schlöndorffs Motto: nur wer sich ändert, bleibt sich treu.

 

Mit Filmen einmischen. Die verlorene Ehre der Katharina Blum. 1975.

 

Der 85-jährige Filmemacher kommt in Fahrt. Filmemachen ist seine Leidenschaft. Welt-Erklären sein Metier und Bescheidenheit ein Markenzeichen. Viele Klassiker und Welterfolge wie die „Blechtrommel“ sind dem gebürtigen Wiesbadener gelungen. Aber auch Pleiten. Zeitlebens sein Vorbild: Max Frisch, der Schweizer Erfolgsschriftsteller. Ihm widmet er mit „Homo Faber“ und „Rückkehr nach Montauk“ gleich zwei seiner Filme. Im Alterswerk Montauk erzählt er die Geschichte von der ewigen Suche reiferer Herren nach dem jungen Glück. Sein persönlichster Film. Warum? „Das ist so eine Lebenshaltung, dass man sich nie damit abfindet, dass man so ist wie man nun einmal ist. Immer macht man das, was man wollte. Man kann nicht anders.“

Volker Schlöndorff versteht sich als Handwerker des Films. Und als genauer Beobachter. Auf die Frage nach dem Erstarken der AfD wirft er neue Gedanken in den Kinosaal. Viele würden Protest nicht etwa aus Dummheit wählen, sondern aus Lebenserfahrung. Menschen fühlten sich abgekoppelt, nichts funktioniere mehr richtig, von der Bahn über das Ausstellen eines Passes bis zum Pflegeheimplatz. Ja, und nicht wenige seien einfach überfordert. Enttäuscht von der Politik der Ampel, die ständig neue Gesetze und Vorschriften erlassen würde, statt Fragen des Alltags wie Wohnen, Migration oder Umweltschutz zu lösen. Der große alte Mann des Kinos spricht von Arroganz der Macht, von Distanz und Misstrauen. Am liebsten würde man sich wieder im Wald verstecken.

 

Volker Schlöndorff. Filmemachen ist seine Leidenschaft. Bescheidenheit sein Markenzeichen. Darunter viele Klassiker und ein Welterfolg. Aber auch Pleiten. Foto: Wikipedia

 

Das Publikum wird unruhig. Genug geredet. Alle möchten seinen Waldmacher-Film aus dem Jahre 2022 sehen. Zuschauen wie der Baumpionier Tony Rinaudo das geschundene Afrika wieder in einen grünen Kontinent verwandeln will. Sein Konzept: Statt Wiederaufforstung mit teuren Großprojekten, die allesamt scheitern, das beharrliche Verfolgen einer simplen Methode: Probleme müssen buchstäblich an der Wurzel angepackt werden. Schlöndorff zeigt, dass es möglich ist, selbst in der Sahel-Zone Bäume zu pflanzen, wenn man wie Rinaudo die Widerstandskraft der alten Wurzeln nutzt, um Neues zu schaffen.

Bewundernswert, wie Schlöndorff selbst in der Mitte des achten Lebensjahrzehnts jung und hellwach bleibt. Er mischt sich weiter ein, ob in Potsdam oder in Ghana. Sein Motor: die Hoffnung auf eine bessere Welt.