Archive for : August, 2024

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Leni forever?

Sie war Hitlers Lieblingsregisseurin. Und seine beste Frau für filmische Propaganda. Leni Riefenstahl. Wie keine andere perfektionierte die ehrgeizige Filmemacherin Ästhetik, Macht und Verführbarkeit des Faschismus. Leni Riefenstahl zählt zu den bekanntesten und umstrittensten Frauen des 20. Jahrhunderts. An diesen großen Mythos hat sich Andres Veiel gewagt. Er nähert sich der Berlinerin aus dem Weddinger Arbeitermilieu, die mit „Triumph des Willens“ und „Olympia“ Bilder schuf, die bis heute wirken. Veiel ist ein beharrlicher Dokumentarfilmer, der sich akribisch mit sperrigen Tabu-Themen auseinandersetzt. Erinnert sei an Der Kick, Black Box BRD oder Beuys.  Auf den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig feiert Veiels neuer Dokumentarfilm „Leni Riefenstahl“ Premiere. Es ist sein Versuch, ihre Magie der (Selbst-)Inszenierung und ihren unbedingten Willen zu Macht und Ruhm zu hinterfragen und zu entzaubern. Ein Tanz auf dem Drahtseil.

 

 

Veiels Produktionsfirma Vincent erklärt in der Ankündigung, dass sich die Reizfigur Riefenstahl mit ihren Bildern aus „Triumph des Willens“ selbst beschreibt: „Ihre strikte Leugnung, die Wechselwirkung ihrer Kunst mit dem Terror des Regimes nach dem Krieg anzuerkennen, ist mehr als nur eine abgewehrte Schuld: In persönlichen Dokumenten trauert sie ihren „gemordeten Idealen“ nach.“ Riefenstahl – eine ungebrochene NS-Narzisstin bis ins Grab?

Veiels Produzentin – die Fernsehjournalistin und Talkmasterin Sandra Maischberger – konnte 2002 die damals fast hundertjährige Riefenstahl kurz vor ihrem Tod interviewen. „Ich hatte das Gefühl nichts zu erfahren. Zwischendurch dachte ich, sie lügt. Nicht, dass sie mich explizit angelogen hätte, eher hatte sie sich vermutlich schon so lange selbst belogen, dass sie nun ihrer eigenen Wahrheit glaubte“, sagt Maischberger in einem Interview der Zeit.

 

Ästhetin, Manipulatorin oder Lügnerin? Andres Veiel nähert sich dem Mythos um die Filmemacherin Leni Riefenstahl. (1902-2003)

 

Maischbergers Begegnung mit Riefenstahl blieb unbefriedigend, quasi unvollendet. „Tante Leni“ sperrte sich, wiederholte beharrlich ihre Version von einer unpolitischen Filmemacherin, die von den NS-Verbrechen erst nach Kriegsende erfahren habe. Seit 2016 unterstützte Maischberger ein Mammutprojekt. Der 700 Kisten-Riefenstahl-Nachlass wurde von einem Team gemeinsam mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz erschlossen. Aus dieser einmaligen Datenfülle – Kalendereinträge, Briefe, Entwürfe, Filmreste, aber auch von Riefenstahl selbst heimlich mitgeschnittene Telefonate – schöpft Andres Veiels Film: „Riefenstahl“.

Wer ist nun Helene Bertha Amalie „Leni“ Riefenstahl? Visionärin, Manipulatorin oder Lügnerin? Wie aktuell ist diese Frau? Für Sandra Maischberger keine Frage: Riefenstahl wäre heute der perfekte Instagram-Star, betont sie. Verführbarkeit sei kein Privileg der Ewiggestrigen, meint Andres Veiel: Warum fallen Menschen immer wieder auf gut gemachte Lügen herein, fragt der Regisseur, „so sehr, dass sie von Wahrheit und Fakten nicht mehr zu überzeugen seien. Das ist das Gegenwärtige von einer Figur, die vor hundert Jahren angefangen hat zu wirken.“ Das Ergebnis seiner dreijährigen Riefenstahl-Recherche kommt Ende Oktober in die deutschen Kinos.

 

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„Wo Freunde sind, da ist Heimat“

Die Berlinerin Inge Deutschkron wurde fast hundert Jahre alt. Alt werden sei keine Leistung, sagte sie manchmal, denn etwas anderes war ihr viel wichtiger: Sie überlebte die Nazis um sage und schreibe 77 Jahre, als sie im Frühjahr 2022 starb. Ihr persönlicher Triumph, betonte Inge Deutschkron. Denn die Hitler-Partei wollte sie und ihre ganze Familie ausrotten. Einfach nur, weil sie „jüdisch“ waren. Ihre Bindung an den Glauben? Fehlanzeige. Vater Martin, ein Sozialdemokrat und Träger des „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ im I. Weltkrieg wurde 1933 aus dem Staatsdienst entlassen. Er konnte im April 1939 nach England auswandern. Inge blieb mit ihrer Mutter Ella in Berlin. Die beiden Frauen mussten ab Januar 1943 untertauchen. Sie überstanden zweieinhalb qualvolle Jahre im Untergrund. Das war nur mit viel Glück und vor allem dank der Hilfe mutiger Menschen in acht verschiedenen Verstecken möglich. Nur 1.700 sogenannte „Illegale“ überlebten, von einst 160.000 Juden in Berlin.

 

Zum 90. Geburtstag von Inge Deutschkron. Heute Journal. ZDF 2012.

 

Nach dem Krieg fühlte sich die „Berliner Pflanze“ heimatlos. Sie zog nach Israel, schrieb ein Dutzend Bücher, darunter den Klassiker „Ich trug den gelben Stern“. Inge Deutschkron war es wichtig, gegen das Vergessen, das so bequem ist, mit Herz, Witz und Verstand anzugehen. Anders sein. Sich wehren. Nicht aufgeben, das war ihr Antrieb. Im Januar 1989 brachte das Grips-Theater mit ihrer Unterstützung das Stück „Ab heute heißt du Sara“ auf die Bühne.  Niemand konnte ahnen, dass diese Geschichte ein Riesenerfolg werden würde. 2001 kehrte Inge Deutschkron nach Berlin zurück. Ganzen Schülergenerationen erzählte sie vom Wunder des Überlebens und ihrer Überzeugung: „Auch in einer unmenschlichen Welt gibt es Menschlichkeit“. Das Grips-Theater wurde ihre kulturelle Heimat. In der Kantine sang sie nach den Vorstellungen mit dem Ensemble gerne fröhliche Lieder – bis tief in die Nacht.

 

 

An „Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ erinnert derzeit eine kleine Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Berliner Stauffenbergstraße. Bis 3. November 2024.

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Was tut gut?

Neulich mit meiner sechsjährigen Enkelin im Bäckerladen. Bei all den feilgebotenen Köstlichkeiten kann sie sich nicht sofort entscheiden. Ihre Wahl fällt auf ein schlichtes Croissant. Eine Kundin in der Warteschlange beobachtet uns aufmerksam. Als wir bezahlen und uns Richtung Ausgang bewegen, schaut uns die Frau fragend an. „Na, bei so einer süßen Tochter kann der Papa aber mächtig stolz sein.“ Wir lachen. Die Dame traut mir eine Menge zu. Sie macht meinen Morgen zu einem das-tut-mir-gut-Ereignis. „Ich bin nur der Opa“, antworte ich und wünsche einen schönen Tag.

Nach dem Frühstück singt die Sechsjährige gemeinsam mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester textsicher und mit großer Leidenschaft Katharina von AnnenMayKantereit. “Katharina, ich glaub an dich. So viele Zweifel, die brauchst du nicht, Katharina, ich glaub an dich. So viele Zweifel, die brauchst du nicht. Katharina.“ Das bringt mich auf die Idee, nachzufragen, welche Songs bei Kids und Heranwachsenden gerade angesagt sind. Eine Zufallsumfrage, klar. Taylor Swift, der absolute Kick bei allen Mädchen ab zehn oder zwölf, bleibt mal außen vor. Hier kommt Katharina.

 

 

Was tut Teenagern gut? Klar. CooIer Sound, Digger. Oder etwas zum chillen, „Bro“, was sonst?  Die britische R&B-Sängerin Raye ist ein Kind des 21. Jahrhunderts. Eine durchgestylte Instagram-Performerin. Markenzeichen: gelockte Bobfrisur, das kurze Schwarze, dazu eine perfekte Big-Band mit viel Brass-Power. Wie viele aus der Generation Z will sie ernst genommen werden. Die Botschaft der 26-jährigen in ihrem neuen „Genesis-Projekt“: Let the light in. Raye: „Man sagt die Zwanziger sind die beste Zeit im Leben, doch ich verbringe meine damit, Sonnenuntergänge zu verpassen, weil ich mich auf meinem Handy mit allen anderen vergleiche.“

 

 

Sonnenuntergänge verpassen? Wäre schade drum, sagt eine andere 23-jährige Künstlerin.Man braucht nur eine Insel/allein im weiten Meer: Man braucht nur einen Menschen, den braucht man aber sehr“. Mascha Koléko. Sie kannte 1930 kein Smartphone, auf das sie unentwegt starrte. Sie freute sich über Strandspaziergänge auf Hiddensee. Sie suchte auch vor hundert Jahren, nach dem, was uns bewegt. Ein freundliches Wort. Menschen, die sich Zeit nehmen. Die nicht immer Angst haben, etwas zu verpassen. Und: Eine zeitgemäße Ansprache. Mascha Koléko. Ein letzter Tipp für alle, die gelassen durch die Sommertage gehen wollen.

 

 

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Fuck you, Othello

Sommerzeit. Chance zum Abschalten, Runterkommen und Entdecken. Es muss keine Weltreise sein. Keine überfüllten Autobahnen, Flughäfen oder Züge. Manches Ziel liegt sehr nahe. Immer wieder Neues entdecken kann man im kleinen brandenburgischen Netzeband in der Nähe von Neuruppin. Mit dem PKW ist es von Berlin eine gute Stunde entfernt, wenn alles klappt, aber das Beste: Netzeband hat einen eigenen Bahnanschluss und kann mit der RE6 alle zwei Stunden erreicht werden.

Das vergessene Straßendorf hat der Düsseldorfer Landschaftsarchitekt Horst Wagenfeld nach der Wende wachgeküsst. Seit dreißig Jahren lebt nun das knapp 200-Seelen-Theaterdorf seinen Traum. Und der heißt: Kunst und Kultur für alle. Theater, Klassik, Jazz, Disco, Lesungen, kurz: das volle Programm. Das Besondere: Alle machen mit – vom Klempner bis zur Computer-Spezialistin. Vor, auf und hinter der Bühne. Regisseur und Mitbegründer Frank Matthus: Es gibt ein bisschen den Spaß, dass wer bei uns beim Catering oder auf der Bühne steht, der muss mindestens einen Doktorabschluss haben.“

 

Wohin hat sich Othello verlaufen? Wer zeigt ihm den richtigen Weg? Foto: Uta Chrost

 

In diesem Sommer steht das neue Masken-Synchrontheaterstück Othello von Shakespeare auf dem Spielplan. Regie: Hans Machowiak. Synchrontheater bedeutet: Die Stimmen kommen vom Band. Liebevoll gefertigte Masken und Kostüme tragen Zugezogene wie Einheimische. Die Kulisse: Ein herrlicher Gutspark. Othello verhandelt Macht, Intrigen und Eifersucht. Natürlich zieht Jago, der Untergebene von Othello, alle Register der verführerischen Schmeichelei und Hinterlist. Zeitlos aktuell, verankert in kriegerischen Zeiten, modernisiert mit Musikeinlagen von Seeed bis Roger Whitaker. Jago will Fuck you Othello aus dem Feld räumen. Gelingt das? Ebenfalls neu: Das Familien- und Kinderstück Regentrude von Theodor Storm. Regie: Judith Zieprig. Gleichfalls eine hochaktuelle Geschichte für Kleine und Große über Hitze und Dürre. Was tun, wenn Regen so wertvoll wird wie ein Sack Goldtaler? Hier sucht das Ensemble, wieder eine Mischung aus Profis und Laien, auf einer Naturbühne nach Antworten. Spielerisch und ganz ohne Maske.

 

Der magische Moment. Kommt an, was auf der Bühne der Welt gezeigt wurde? Das Ensemble von Othello in Netzeband. Foto: Uta Chrost

 

Seit fast dreißig Jahren zeigt der Theatersommer Netzeband den Klassiker „Unter dem Milchwald“. Das Kultstück von Dylan Thomas über einen Frühlingstag in einem kleinen walisischen Ort – mit selbstgebauten Puppen und Stimmen vom Band. Der Milchwald war so eine Art Urknall für das bundesweit einmalige Synchrontheater. Raus aufs Land! Netzeband steht für das Zusammenwachsen von Ost und West. Frank Matthus: „Wenn das Publikum dann wirklich jubelt, und wir die Masken abnehmen, dann sieht man glückliche Gesichter. Das ist was Schönes.“ Das zählt. Egal wieviel Arbeit Theater macht und wie schmal die Fördertöpfe geworden sind. Gemeinsam macht alles mehr Spaß. Draußen in der Sommerfrische mit Theater, Natur und Kultur. Wahrhaftiges Leben ist Begegnung. Und das ist am vermeintlichen Ende der Welt auf eine sehr schöne Art möglich.