Chemnitz 2025. Was geht?
„Chemnitz war und ist die Stadt der fischilanten Friemler. In ihrer Mitte thront der Nischl“, so trommelt das Land Sachsen für Europas künftige Kulturhauptstadt 2025. Alles klar? Fischilante Friemler? Das bedeutet ungefähr clevere, patente Tüftler und Bastler. Motto: Reparieren, statt wegwerfen. Aus alt macht neu. Weiter mit Sächsisch für Anfänger: Nischl ist der Spitzname für das 40-tonnenschwere Karl-Marx-Monument des russischen Bildhauers Lew Kerbel. Die einst regierende SED verpasste der sächsischen Malocherstadt erst den Namen Karl Marx. Später schenkte die Partei noch einen riesigen Schädel. Apropos: Karl Marx war nie in Chemnitz.
Den meisten fällt zu Chemnitz außer Karl Marx … gar nichts ein. Da wären noch Stefan Heym oder die erfolgreichen 99er-Basketballer, aber dafür begeistert sich nur eine Minderheit. Und sonst?
Chemnitz heute: 250.000 Einwohner. Jede Menge Raum, viel Leere. Dazu Aufgegebenes und Zusammengestückeltes. Chemnitz hat die niedrigsten Mieten und den größten Leerstand von allen deutschen Großstädten. Vom „sächsischen Manchester“, einst Zentrum der Textilproduktion, sind Erinnerungen, leere Fabriken und jede Menge Industrieruinen geblieben. Nun feiert das graue Chemnitz ein ganzes Jahr lang seine Zeit als europäische Kulturhauptstadt 2025. Eine echte Challenge für die vielfach übersehene Stadt. So lautet das Kampagnenmotto, zeitgeistgestylt: „C the Unseen“. Chemnitz soll sichtbar werden. Als lebenswerte Stadt mit Ecken, Kanten und Brüchen. Als Plus der raue Charme des Unfertigen und Unvollkommenen. Chemnitz, das Aschenputtel. Eine Liebe auf den zweiten Blick?
Als Höhepunkte im Kulturhauptstadtjahr werden Purple Path, ein Kunst- und Skulpturenweg angekündigt, dazu Friedensfahrten auf dem Rad, genannt European Peace Ride, eine Opernpremiere von „Rummelplatz“ nach dem Roman von Werner Bräunig und „Tales of Transformation“, eine neue Ausstellung im Industriemuseum. Hier soll ab April 2025 die Entwicklung ehemaliger europäischer Arbeiter-Hotspots wie Lodz, Manchester oder Chemnitz skizziert werden. Schließlich hieß Chemnitz in der DDR fast vierzig Jahre lang Karl-Marx-Stadt. Über allem leuchtet der von Konzeptkünstler Daniel Buren bunt gestaltete Schornstein des Kraftwerks Chemnitz-Nord.
Aus dem Schweiß und Staub von Karl Marx Kapital schlagen, für die Zukunft? Das bescheidene Chemnitz bietet denjenigen, die genauer hinschauen, eine Menge. Eine lebendige Musikszene mit den Local Heroes Kraftclub, Blond, Baumarkt und der jungen DJane Tereza mit ihrem Chemnitz/Detroit-Projekt. Lange Nächte werden im Kultclub Atomino gefeiert, mit Konzerten, Lesungen und Performances. Beheimatet in einer pittoresken alten Fabrikhalle auf dem Wirkbau-Gelände. Das Atomino-Team Beate Düber, Maria Tomas Llera Pérez und Jan Kummer steht für einen Kraftort, der unfertig, innovativ und aufgeschlossen ist – wie Chemnitz. Jenseits aller AfD- und Baseballschlägerjahre-Klischees. Jan Kummer: „Ich könnte jetzt nicht mit Gewissheit sagen, wie die Stadt in zehn oder fünfzehn Jahren aussieht. Das war schon immer so. Und das macht es natürlich spannend.“
Zuletzt noch eine lokale Spezialität zum Antesten: die Chemnitzer Platte. Maßstab 1 zu 30. Grau, aus einem besonderen Teig, Rezept bleibt geheim. Das Neubau-Gebäck soll für das drittgrößte Neubaugebiet der DDR in Chemnitz werben. Das Institut für Ostmoderne ist überzeugt: Wenn die Platte schmeckt, kann es ein Traditionsgebäck wie der Frankfurter Kranz werden. Motto: Man drehe einfach die üblichen Vorurteile über den grauen Osten stilsicher um. Und fertig sei mit der Chemnitzer Platte ein neues Erfolgsprodukt. Bereits gefeiert und genossen auf der Grünen Woche in Berlin.
Chemnitz 2025. Jede Menge Fragen, Erwartungen, Klischees und Vorurteile. Hier gibt es erste Anlaufstellen: Kosmos Chemnitz. Kunstfestival Begehungen 2025. Enter Kulturregion 2025. Hier noch das offizielle Programm mit dem Versprechen: „Es erwartet Sie ein Culture Clash zwischen Hochkultur und lebendiger Indieszene, zwischen Jugendstil, Industrie- und DDR-Architektur sowie postsozialistischer Moderne.“ Chemnitz – Kulturhauptstadt Europas 2025.
Noch ein Lesetipp:
Patricia Holland Moritz. Kaßbergen.