„Golden Age“
Berlin-Mitte. Es ist ein kalter Novemberabend. Ich folge einer Art Wandzeitung, die sich kilometerlang auf den Spuren der alten Grenzlinie schlängelt. Berlin feiert den 35. Jahrestag des Mauerfalls mit einem „Fest der Freiheit“. Wieder sind turbulente Zeiten wie 1989. Zeitenwende? Wendezeiten? Wohin geht die Reise? Zu sehen sind tausende Plakate. Vom ehemaligen Grenzübergang Invalidenstraße bis zum Checkpoint Charlie. Entworfen von Menschen aus allen Altersklassen, Regionen und Schichten. Einigendes Motto: „Haltet die Freiheit hoch!“ Ein Kontrast zum Sound der letzten Tage. Ein „Goldenes Zeitalter“ verspricht der neue, alte US-Präsident Donald Trump seinen Landsleuten. In Deutschland hat sich die fragile Fortschrittskoalition ausgeampelt. Neuwahlen stehen an. Was kommt?
Der Mauerfall war für unsere Familie ein Glücksfall. Nach 10.315 Tagen Teilung war Schluss mit der Abschottung. Endlich wieder mit Familie und Freunden ohne Kontrolle und Passierschein zusammen sein. So viel Zukunft war nie! Was für eine Fügung. Ich war als junger ZDF-Reporter am Brandenburger Tor dabei. Von Aufbruch, Zusammenwachsen und blühenden Landschaften war die Rede. Was ist daraus geworden? Mittlerweile gibt es „Brandmauern“ und bei manchen die Mauer im Kopf. Andere neue Mauern sind unsichtbar: Die zwischen Arm und Reich. Aufsteigern und Abgehängten. Stadt und Land. Zwischen Nord- und Südhemisphäre der Welt. Die Spaltung in vielen westlichen Ländern geht quer durch die Bevölkerung. Von A wie Abtreibung über K wie Klimawandel bis Z wie Zuwanderung. Welche Mauern sind in diesen Tagen einzureißen? Der Kabarettist Jürgen Kuttner sagt: Für ihn verlaufe die eigentliche Grenze „zwischen Armleuchtern und Okay-Menschen“.
„Ist das alles nur ein Traum, aus dem es ein bitteres Erwachen gibt?“, fragte am 4. November 1989 der kürzlich verstorbene Wittenberger Pastor Friedrich Schorlemmer. Und weiter der DDR-Bürgerrechtler vor Hunderttausenden auf der Protestkundgebung am Alex – fünf Tage vor dem Mauerfall. „Oder sind wir mitten in einem wirklichen dauerhaften demokratischen Aufbruch?“
Die Schriftstellerin Christa Wolf appellierte einen Tag vor dem 9. November 1989: „Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen.“ Es sollte komplett anders kommen: Eine neue, gemeinsame Verfassung scheiterte. Bei der Volkskammer-Wahl im März 1990 erreichte die Bürgerbewegung 2,9 %. Die große Mehrheit wollte so schnell wie möglich die Einheit. Aus der Traum von einem selbstbestimmten Neuanfang.
Viele Plakate machen Mut. Sie kreisen immer wieder um die Themen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Um das Recht, selbstbestimmt zu leben. Auch in Zukunft. Eine andere Welt ist machbar, ist oft zu lesen. So wird mir an diesem kalten Abend warm ums Herz. Zukunft ist möglich. Genau das erzählt die Geschichte vom 9. November 1989. Auch die stabilsten Mauern können kippen. Fröhlich, friedlich und mit Zuversicht statt Verzagtheit. Daran gemeinsam in Ost und West zu erinnern, ist keine vertane Zeit. Denn: Miteinander- statt übereinander zu reden macht in diesen Tagen mehr als Sinn. Das ist besser als jede neue Apple Watch.