Archive for : Januar, 2025

post image

„Tue deinen Mund auf“

Dieser Spruch Salomons „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“, steht am Anfang eines Augenzeugenberichts aus Auschwitz. „Die Todesfabrik“ ist ein Dokument des slowakischen Holocaust-Überlebenden Filip Müller, das unter die Haut geht. Sein Buch erschien bereits 1946, ein Jahr nach Kriegsende. Als wir im Herbst 2024 privat in Polen waren, wollten wir uns in Auschwitz ein eigenes Bild machen. Mit einer organisierten Tour wurden wir in einem Kleinbus von Krakau in einer Autostunde nach Oświęcim gebracht. Nach unzähligen EU-Kreisverkehren ging es durch das oberschlesische Städtchen mit McDonalds, Netto-Markt und einem Kinokomplex. Schließlich erreichten wir ein modernes Besucherzentrum mit einem großen Parkplatz.

 

Auschwitz. Besucherzentrum.

 

Auschwitz ist ein Besuchermagnet. An diesem späten Septembertag herrscht großer Andrang. Touristen, Schulklassen und Reisegruppen aus der ganzen Welt werden routiniert in vielen Sprachen der Welt eingecheckt. Das neue Empfangsgebäude erinnert ein wenig an das Berliner Jüdische Museum von Daniel Libeskind. Am Beginn der vierstündigen Tour öffnet sich im dunklen Untergeschoss ein großes Eisentor von Geisterhand. Wie in einer Art Disney World werden die Gruppen vorbei an hohen Betonwänden hinauf in das Stammlager Auschwitz geführt. Beklemmung stellt sich von allein ein. Die Fernsehbilder, die ich im Kopfkino mitgebracht habe, setzen sich zu einem realen Puzzlebild zusammen. Unser polnischer Guide startet sein Programm in einem eher entwicklungsfähigen Englisch. Selbst unser britischer Mitreisender schüttelt den Kopf, man könne diesen Mann kaum verstehen.

 

Auschwitz. Ankunft. Die berühmt-berüchtigte Rampe wurde erst im Mai 1944 fertiggestellt.

 

So entwickelt sich unsere geführte Tour mitten durch Touristenmassen im Gänsemarsch zu einem sehr speziellen Erlebnis. Der Guide spricht unentwegt, ist jedoch nur wenig zu verstehen. Zeit für eigene Betrachtungen ist nicht vorhanden. Die folgende Gruppe schiebt von hinten unerbittlich nach. Und doch befällt mich ein mulmiges Gefühl. Vorbei an Räumen mit gesammelten Schuhen und Haaren von Opfern. An den Wänden schreckliche Schwarz-Weiß-Bilder mit ausgemergelten Häftlingen. Das Gruselkabinett des Herrn Dr. Mengele. Höhepunkt ist die Erschießungswand. Nach einer kurzen Weiterfahrt erreichen wir das weitläufige KZ-Auschwitz-Birkenau mit dem markanten Torbau. Symbol der SS-Verbrechen, der Vernichtung und der Banalität des Bösen. Auschwitz ist ein Unort. Hier möchte man nicht lange bleiben.

 

Frauen und Kinder auf ihrem letzten Weg.

 

Vor achtzig Jahren, am 27. Januar 1945, hat die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Ein Moment, der das unfassbare Ausmaß des Holocausts sichtbar machte. Drei Jahre lang quälte die SS in Auschwitz unter unmenschlichen Bedingungen rund 1.2 Millionen Häftlinge. Etwa eine Million Menschen starb in der Todesfabrik, darunter weit über 900.000 Juden aus ganz Europa.

„Jederzeit erschießbar. Für die Häftlinge bedeutet Auschwitz Hunger, Krankheit und Angst vor dem Tod. Dagegen tun sich für die SS-Männer ungeahnte Möglichkeiten auf: Viele berauschen sich an der Grenzenlosigkeit ihrer Macht“, schreibt der Historiker Ernst Piper. Sein neues Auschwitz-Buch wird als erste umfassende deutsche Monografie über das Vernichtungslager demnächst erscheinen.

 

Die Männer, die das Zyklon B durch den Schacht in die Gaskammer geworfen haben, hießen Desinfektoren. Sie waren Angehörige der SS.

 

Filip Müller gehörte zu den gerade mal fünf Überlebenden des Sonderkommandos. Sie mussten vom ersten Tag an Kinder, Frauen und ganze Familien auf dem Weg ins Gas begleiten. Müller „arbeitete“ von 1942 bis Ende 1944 rund um Gaskammern und Krematorien. Seine Augenzeugenberichte, 2021 unter dem Titel „Sonderbehandlung“ erschienen, erschütterten die Nachwelt.

 

„Das Sterben von Gas dauerte etwa

von zehn bis fünfzehn Minuten.

Das Schrecklichste in dem allen war,

als man die Gaskammer aufgemacht hat,

die grausame Szenerie sich anschauen.

Wie die Menschen da angepresst wie Basalt,

wie Steine standen.

Wie sie herausfielen von den Gaskammern!

Einige Male hab ich das gesehen.

Und das war das Schwerste überhaupt,

aber auf das konnte man sich nie gewöhnen.“

 

 

Krematorium II 1943.  Hersteller war die Firma Topf & Söhne aus Erfurt. Werbemotto: „Qualitätsvolle Öfen für Feuerbestattung“. Die Krematorien wurden Ende 1944/Anfang 1945 gesprengt.

 

Filip Müller berichtet nüchtern und lapidar vom Vernichtungsalltag, der 1.689 Tage lang andauerte. Der Auschwitz-Überlebende starb am 9. November 2013 im hohen Alter von 91 Jahren. Sein Satz gilt weiter: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind“.

post image

„Und wenn sie verbrennen…“

„Rechts oder Links?“ Wohin geht die Reise in Deutschland? Der Zeitgeist wähnt sich in einer gefühlten „Depression“. Die Trumps und Putins dominieren die Welt. Die Demokratie in den Farben des Nachwende-Deutschlands schwächelt, heißt es, die Eliten seien am Ende. National oder sozial, sind die einzigen starken Kraftfelder, und die politische Mitte sei erschöpft: „Das System mag in sich vernünftig sein, gut, aber wir wollen es nicht mehr. Dagegen ist kein Argument gewachsen.“ Dieser Satz ist fast hundert Jahre alt. Er stammt aus dem Oktober 1931, als die Weimarer Republik Richtung Abgrund rollt. Damals herrschte pure Endzeitstimmung. Beim Tanz auf dem Vulkan half auch die kulturelle Blütezeit nicht, mit Marlene Dietrich und vielen anderen herausragenden Künstlern wie Bert Brecht, Mascha Kaléko oder Kurt Tucholsky.

 

 

Der 32-jährige Hans Zehrer veröffentlicht seinen Text über das Ende der Demokratie in der „Tat“, eine „Monatszeitschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit“. Seine 45 Seiten  zum Thema: „Rechts oder Links?“ sind von hoher Aktualität. Der junge Autor fordert einen Neuanfang, eine „Dritte Gemeinschaft“. Jenseits von Faschismus und Kommunismus. Gedanklich ist der Weg zum Dritten Reich atemberaubend kurz. Diesen Begriff propagiert der „konservative Revolutionär“ Arthur Moeller van den Bruck 1923. Die Nazis kapieren den Begriff vom „Dritten Reich“ erfolgreich. Perfektes Wording würde man heute sagen.

Der Text in der „Tat“ analysiert: Das Land stehe vor dem „Selbstmord des Kapitalismus“. Die Menschen hätten die liberale Demokratie satt. Zehrer verleiht dem „Aufruhr der Mittelschichten“ Richtung und Stimme. „Die eigentliche Aufgabe“ sei nun die Führung zu übernehmen, in einem Deutschland, das vermeintlich nichts mehr zu verlieren habe außer seinen Ketten. Nur so sei Rettung und „Gestaltung neuer Wirklichkeit“ möglich – jenseits von Hickhack, Tagespolitik und Parteienkonkurrenz.

 

 

Ist die Lage Anfang 2025 tatsächlich so dramatisch wie Ende 1931? Nein, betont der Historiker Jens Bisky in seinem hochaktuellen Buch „Die Entscheidung“. Die Lage sei heute anders. Die Bundesrepublik kenne keine Massenarmut, keine Massen-Verelendung und nicht Millionen Menschen, die hungern. Es existiere keine „Dolchstoßlegende“ der Rechten nach dem verlorenen I. Weltkrieg. Trotz aller Haushaltslöcher sei die heutige Berliner Republik zahlungsfähig, und nicht bankrott wie damals in der Weimarer Republik. Zudem sei die Bundesrepublik in der EU integriert, es gebe keine unzufriedenen Militärs, die das System lieber heute als morgen abschaffen wollten. Bisky plädiert, einen kühlen Kopf zu bewahren und vor allem aus der Geschichte zu lernen.

 

Der neue Konsumtempel am Hermannplatz. Berlin-Neukölln. 1933

 

Je länger man sich in Biskys Panorama-Werk vertieft, desto mehr Parallelen drängen sich auf. 1930 implodierte nach zwei Jahren Dauerstreit eine Mehrparteienkoalition unter Führung der SPD. Danach folgte ein rigider Sparkurs der Regierung Brüning, der die Radikalisierung politischer Ränder geradezu befeuerte.

Und 2025? Die gescheiterte Ampel hinterlässt ein Land ohne gültigen Haushaltsplan. Der Milliarden-Investitionsstau schwächt alle Bereiche der Daseinsfürsorge. Vom Personalmangel in Kitas, Schulen und Verwaltung über einstürzende Brücken und einen öffentlichen Nahverkehr, auf den kein Verlass mehr ist, bis zum täglichen Kampf um Arzttermine, um eine Wohnung oder einen Platz in überteuerten Pflegeheimen.

Auch heute heißt es wieder: Die liberale Demokratie ist in der Krise. Und damals? Da rief die Monatszeitschrift „Tat“ mit Sitz in der Budapester Straße 1 dazu auf, „mit der Zeit zu gehen“. Die Demokratie habe versagt. Die neue Zeit jedoch führte keine vierzehn Monate später schnurstracks zu Hitler.

 

Die Tat unter Leitung von Hans Zehrer. Mit einer Auflage von knapp 30.000 Exemplaren erreichte das Blatt der nationalkonservativen Edelfedern 1932  doppelt so viele Leser wie die radikaldemokratische „Weltbühne“. Zehrer wurde 1933 entlassen.

 

Sehr empfehlenswert. Jens Bisky. Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934.

post image

„Ein Schritt vor, zwei zurück“

Ich wach auf, mein Haus ist kalt. Nichts funktioniert. Nicht das Feuer im Kamin. Nicht das Auto vor der Tür. Der Blues des Lebens. Vögel singen nicht. Kirchenglocken bleiben stumm. Die eigene Beziehung ist festgefahren, irgendwo zwischen Routine und Frust. Ach, dieser ständige miese Kleinkrieg. Szenen einer Ehe. Höchste Zeit für einen Schlussstrich? Also: „Ein Schritt vor, zwei zurück“. Die Sehnsucht tropft aus dieser Trennungsballlade, bald vierzig Jahre alt. Ein Song aus der Feder von Bruce Springsteen. 75-jähriger US-Milliardär mit Magengeschwür und seinen uramerikanischen Songs, in der es um die großen Geschichten der kleinen Leute geht.

 

 

Ein Schritt vor, zwei zurück. Musikalisch besteht das Lied aus drei Akkorden. Das kann man langweilig oder genial finden. Beim „Boss“ zählt etwas anderes. Es sind seine Geschichten, die er erzählt. Sein Spitzname „The Boss“ stammt aus den 70ern. Am Anfang der Karriere zahlte er nach den Auftritten seiner Band noch die Gage bar auf die Hand. Längst ist Bruce Frederick Joseph Springsteen aus New Jersey eine Art Anti-Trump der USA. Er gewinnt keine Wahlen, aber die Herzen seiner Fans.

Der Boss ist einer, der es geschafft hat. Der perfekte amerikanische Traum: Reich, aber unangepasst. Der Clou: Bruce gibt sich als einer aus, der für die einfachen Leute da ist. One Step up, two steps back: „Sitzt eine Frau hier in der Bar. Ich krieg die Nachricht, die sie sendet. Sie sieht nicht so verheiratet aus. Und ich mach so, als gings mir blendend.“

Ein Schritt vor, zwei zurück. Soll ich aus meinem Eheknast ausbrechen? Dieses Trennungslied hat er Julianne Phillips, seiner ersten Frau, gewidmet. In Springsteens Originalsong ist im Hintergrund eine weibliche Begleitstimme zu hören, die seiner künftigen Ehefrau Patti Scialfa.

 

 

Diese ewig alte, neue Frage: Bleiben oder Gehen?

„Ich sitz in dieser Bar heut Nacht. Alles, was ich denk ist, ich bin das gleiche alte Lied, dasselbe Stück. Gefangen ein Schritt vor und zwei zurück. Dieselbe Sache, Nacht für Nacht. Wer hat recht, wer hats falsch gemacht? Noch ein Streit und die Türe fliegt. Noch ne Schlacht in unsrem kleinen miesen Krieg.“

Die Liedermacherin Ulla Meinecke hat Springsteens Song 1991 gecovert. Eine wunderbare deutsche Version mit Rollentausch: Nun sucht sie den richtigen Prinzen. Der Kerl an der Bar sieht nicht verheiratet aus, oder?

Was für ein stimmiger, poetischer Schmachtfetzen! Dem Leben abgeschaut, zum Niederknien schön. Bei Ulla Meinecke klingt das so:

„Ich hab geträumt, ich hielt dich im Arm.
Die Musik ging nie zu Ende.
Wir tanzen Arm in Arm und Blick in Blick,
immer ein Schritt vor und zwei zurück…“

Ulla Meinecke ist derzeit auf Deutschland-Tournee. 17. Januar 2025: Göttingen. 18. Januar 2025: Mönchengladbach. Bruce Springsteen kommt am 11. Juni 2025 nach Berlin. Ort: Olympiastadion.

Hier noch eine der vielen weiteren Cover-Versionen:

post image

Fette Tropfen

Sieben Herren, ein famoses Live-Ereignis aus dem Land der Kiwis. Das sind Fat Freddys Drop. Die Band macht seit Jahren ihrem Namen alle Ehre. Die Jungs vom anderen Ende der Welt bringen ausreichend Gewicht auf die Waage. Ihr Konzept ist einfach. Sie machen Musik, die Spaß macht, die Kopf und Beine bewegt. Wunderbar! Statt Askese und Diät bieten die Jungs „im besten Alter“ Rhythmus und Lebensfreude. Die Truppe hat sich nach der Comic-Figur Fat Freddys Katze aus der US-Serie „The Fabulous Furry Freak Brothers“ benannt. Seit vielen Jahren spielt Neuseelands beste Live-Band, die Fat Freddys Drop, in einer eigenen musikalischen Liga. Jetzt liegt ihr neues Album Slo Mo vor.

 

 

Was ist ihr Geheimnis? Sie zelebrieren Dub-Reggae-Vibe mit Bläsern, okay. Das machen viele. Aber wenn das Licht auf der Bühne angeht, legen sie live los. Und wie! Fat Freddys steigern sich in einen cool-smarten Sound-Mix aus Roots-Reggae, Soul, Techno, Jazz, Dub und House. Garniert mit eingängigen Bläsersätzen, von der filigranen Posaune bis zur fetten Tuba. Anything goes! Die Musiker kommen aus verschiedensten Richtungen. Ein paar Gemeinsamkeiten verbinden die Fat Freddys. Sie kommen alle aus Wellington. Berührungsängste mit vielfältigen Musikstilen? Ein Fremdwort. Und natürlich: Die sieben Neuseeländer essen für ihr Leben gern. Keyboarder Iain Gordon – Bühnenname: „Dobie Blaze“ – kocht regelmäßig für die Band. Bandleader Fitchie schwärmt: „Wer gemeinsam isst, bleibt auch sonst zusammen.“ Seit über zwanzig Jahren begeistert die Band, mittlerweile weltweit.

 

 

Das 18.000 Kilometer entfernte Neuseeland hat außer Rugby, grünen Wiesen und atemberaubender Natur mit den Fetten Freddys nunmehr einen weiteren Exportschlager. Gut so!  Neuseeland ist mehr als Mount Everest-Erstbesteiger Sir Edmund Hillary oder Haka-Tänze der Maoris. Im Land der schrägen Vögel und störrischen Schafe gilt eine einfache Lebensphilosophie. Es wird schon! Auch nach schlimmsten Erdbeben. Wir lassen uns nicht unterkriegen!  Neuseeland ist ein kleines Land, das große Sehnsucht auslöst. Das sollte man wissen: Besucher sind nur erwünscht, wenn sie wieder gehen. Es sei denn, aus Krauts werden richtige Kiwis. Wie meinte einmal die große alte Dame der neuseeländischen Literatur Katherine Mansfield? Die Meisterin der Short Story aus Wellington: „Wir sind eine so glückliche Familie, seit mein lieber Mann gestorben ist.“