Archive for : April, 2025

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Die Geister, die er rief…

Als ein guter Freund sechzig wurde, tauchte ein Überraschungsgast als Geburtstagsgeschenk auf. Ganz in Schwarz gekleidet setzte sich ein junger Mann mit strubbeligen Haaren an den Flügel und legte los. Wow! Es war ein Hammer. Mehr noch: Der Höhepunkt des Abends. Von zarten, verspielten Tönen bis zu kräftigen Klangfolgen wie ein Sommergewitter. Der Name des Mannes an den Tasten: Michael Wollny.

Mittlerweile ist mein Freund fast siebzig und Michael Wollny längst ein Star. Er gilt als einer der wichtigsten europäischen Jazzmusiker seiner Generation. Die Süddeutsche Zeitung nennt ihn einen Musiker, der „aus jeder nur erdenklichen Musik ein Erlebnis machen kann, das einem den Atem nimmt“. Für die FAZ ist er der „vollkommene Klaviermeister“.  Jazz-Puristen und Nörgler nennen seinen Sound naserümpfend Himbeerjazz, zu nah am Kitsch.

 

 

Wollnys neues Album heißt Living Ghosts. Vier lange Stücke, live eingespielt mit Bassist Tim Lefebvre und Schlagzeuger Eric Schaefer. Das ist seit Jahren das Michael Wollny-Trio. Warum live? Der 46-Jährige in der ZEIT: „Es ist keine Studioaufnahme, sondern eine reine Live-Improvisation, es zeigt also genau, was wir gerade fühlen und wahrnehmen. Wir lassen Geister, Themen, Erinnerungen auf die Bühne, teilweise ekstatisch, mitunter besessen. Es ist vielleicht eine Heimsuchung, aber eine positive.“

 

Michael Wollny-Trio. Living Ghosts. 2025

 

Wollny lässt die Geister tanzen. Er zaubert sie auf seinen 88 Tasten aus der Flasche. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los. Das ist gut so. Denn sein Jazz ist eine Entdeckungsreise. Ein sehr spezieller Sound zum Aufputschen, dann plötzlich wieder leise, sensibel, zum Wegträumen.

 

 

Musik muss überraschen. Das ist der wesentliche Unterschied zu KI-getriebenen Fertigprodukten. Wollny: „Zu Beginn eines Konzerts wissen wir nie, welche Fragmente von welchen Stücken auftauchen werden oder in welcher Reihenfolge sie sich entfalten werden.“ Dabei experimentiert das 1978 geborene Ausnahmetalent Wollny von Kindesbeinen an. Von Jugend musiziert zum Bundesjazzorchester. Von der Musikhochschule Würzburg bis in die Popcharts. Wollny lebt heute in Leipzig und lehrt als Professor an der Hochschule für Musik und Theater.

Sein KI-betriebener Konzertflügel in Lausanne heißt Lars: Lars für „Listen, Action, Reaction, Silence“. Das digitale Klavier ist für Wollny eine Herausforderung, so eine Art „musikalischer Gymnastikraum“. Michaels Maxime: „Man braucht einen Kompass, muss wissen, wo man hinwill, während man gleichzeitig offen sein muss, Neues über den eigenen Kompass herausfinden.“

 

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Unser täglich Brot

April 1945: „Es ist Frühling, so etwas wie Freude liegt in der Luft. Die ersten Blumen streckten vorwitzig ihre Köpfe hervor“, notiert der französische KZ-Häftling Yves Béon. Die Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich schreibt vor genau achtzig Jahren: „Bis in die letzte Dachkammer soll der Widerstand fortgesetzt werden. Wofür? Damit Herr Hitler sich noch eine Woche länger am Leben hält. Damit Herr Göring seinen Fettbauch weiter mit Gänseleber vollstopft.“  Seit Anfang April wird in Berlin Brot offiziell nur noch mit Hilfe von Sondermarken durch NS-Dienststellen verteilt. Die „Abteilung Wehrmachtspropaganda des Oberkommandos der Wehrmacht“ bemerkt: „Große Missstimmung herrscht in der Bevölkerung der Vororte, die keine Sonderbrotzuteilung erhalten“. Statt Brot gibt es Bomben und nur noch Durchhalteparolen: „Aufgeben niemals! Der Endsieg steht vor der Tür!“ Niemand bei klarem Verstand glaubt noch daran.

 

Die Bäckerei „Treppauf“ in Berlin-Rahnsdorf. In diesem kleinen Laden hat sich Anfang April 1945 eine große Tragödie abgespielt. Das Foto stammt aus DDR-Zeiten. Vermutlich 70er Jahre.

 

Das tägliche Überleben sieht so aus: Für jede/n in Berlin werden noch genau 254 Gramm Brot, 32 Gramm Fleisch und 16 Gramm Fett täglich zugeteilt. Am Freitagmorgen, den 6. April 1945 verbreitet sich im Köpenicker Vorort Rahnsdorf eine Nachricht wie ein Lauffeuer: Den Bäckereien geht das tägliche Brot aus. Das Lebensmittel gibt es nur noch gegen Bezugsschein oder für Wehrmachtsangehörige. Etwa zweihundert Frauen, Kinder und Alte versammeln sich vor der zentralen Bäckerei Deter an der Fürstenwalder Allee 27. Im Volksmund nur „Bäcker treppauf“ genannt. Die Menschen haben Angst und Hunger. Sie fordern Brot. Die nazitreuen Inhaber weigern sich, Brot ohne Marken zu verkaufen. Sie rufen den NS-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann herbei.

 

 

 

Als die Menge den kleinen Laden stürmt und tatsächlich einige ein Brot ergattern können, zückt der mit dem Rad herbeigeeilte Nazi-Mann Gathemann seine Pistole und droht „alle Plünderer“ zu erschießen. Es folgen aufgeregte und wütende Wortgefechte. Die Menschen sind verzweifelt. Der 56-jährige Tischlermeister Max Hilliges ruft dem NS-Mann zu: „Gebt den Frauen doch Brot!“ Und: „Du musst Deinen braunen Rock sowieso bald ausziehen.“ Dieser richtige Satz zur falschen Zeit hat tödliche Konsequenzen.

Das NS-Regime nimmt grausam Rache. Als die Menge auseinander stiebt, notieren die Bäckersfrau, zwei Nachbarinnen und der NS-Ortsgruppenleiter insgesamt fünfzehn Namen auf einem Stück Brotpapier. Diese „Aufrührer“ werden noch am selben Abend von Polizei und Gestapo festgenommen. Drei sogenannte „Rädelsführer“, zwei Frauen und der Tischler, werden am Tag darauf im Polizeipräsidium am Alex zum Tode verurteilt. „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will“, notiert NS-Propagandachef Joseph Goebbels zufrieden in sein Tagebuch.

 

Das Ehepaar Walter und Margarete Echlepp. Sie waren in Berlin-Steglitz ausgebombt worden und lebten am Kriegsende 1945 in einer kleinen Datsche im Köpenicker Vorort Rahnsdorf. Margarete wurde „als Rädelsführerin“ für ein Stück Brot hingerichtet. Walter erhielt nach Kriegsende keinerlei Entschädigung, nicht einmal eine Entschuldigung. Foto: privat

 

In der Nacht vom Sonntag zum Montag, vom 7. auf den 8. April 1945, werden Max Hilliges und die 45-jährige Hausfrau Margarete Elchlepp hingerichtet. Die beiden gehören zu den letzten Ermordeten von Plötzensee. Enthauptet für ein Stück Brot. Margaretes Schwester Gertrud „begnadigt“ Goebbels zu zehn Jahren Haft, weil sie Mutter von drei Kindern ist. Die 37-Jährige überlebt das Kriegsende im Zuchthaus Hamburg-Fuhlsbüttel.

 

Berlin-Rahnsdorf im Osten der Hauptstadt. Seit November 2022 erinnert wieder eine Gedenkstele an das NS-Verbrechen vom April 1945. Die erste Gedenktafel an der Bäckerei aus dem Jahre 1998 war jahrelang verschwunden.

 

Wenige Apriltage nach dem Brotaufstand von Rahnsdorf treffen sich in San Francisco Delegierte aus fünfzig Nationen. Sie formulieren in wochenlanger Arbeit insgesamt 111 Artikel der „Charta der Vereinten Nationen“. Aus dem Wahnsinn, Weltkrieg und Naziterror, soll eine bessere Zukunft entstehen. In einem Vorwort zur UNO-Gründung schreibt der Pulitzer-Preisträger Stephen Vincent Benét hoffnungsfroh:

„Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im großen Weltall. An uns liegt es, daraus einen Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und Furcht gequält, nicht zerrissen in sinnlose Trennung nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung. Gib uns den Mut und die Voraussicht, schon heute mit diesem Werk zu beginnen, damit unsere Kinder und Kindeskinder einst stolz den Namen Mensch tragen.“

Es ist eine Binse. Aber sie ist aktueller denn je. Erinnern ist handeln.