Archive for : April, 2025

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Die erste große Liebe der Eva Braun

Im Herbst 1944 verliebt sich die vierzehnjährige Eva Braun in den zwei Jahre ältere Hans-Georg Deichmann. „Hansi“ genannt. Eine Jugendliebe im märkischen Kleinstädtchen Neuruppin. Die beiden lesen gemeinsam Rilke. Sie tauschen Goethe-Zitate aus. Zum Beispiel das „Mailied“: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur!“ Doch die raue Wirklichkeit holt sie unerbittlich ein. Der von Hitler entfesselte Weltkrieg rückt immer näher. In den letzten Kriegsmonaten meldet sich Hans-Georg Deichmann an die Front – freiwillig. Am 6. April 1945 schreibt Hansi als „Scharführer“ diesen Feldpostbrief an „Fräulein Eva Braun“ in Neuruppin, Prinzenstr. 2:

„Liebes Evchen,

Du fehlst mir sehr, Eva. Wie sehr würde ich gerne wieder mit Dir spazieren gehen. (…) Die Lage ist erschreckend ernst. Beinahe möchte ich verzagen. Es kann nur noch ein Wunder Deutschland retten, aber an dieses Wunder glaube ich! Eva, wir haben dem Führer die Treue geschworen und werden ihm unseren Eid halten. Gott möge mir helfen, dass ich im entscheidenden Moment das schlechte Ich überwinden kann. Und wenn ich dann falle, dann habe ich das Recht, zu den vielen unbekannten Toten, zu der großen Garde, einzugehen. Dann dürft Ihr, dann darfst Du auf mich stolz sein. (…)

Eva, wir beide haben wir die Gewissheit, dass eine den anderen liebt. So sind wir schon um vieles reicher als mancher andere. Wir wollen dem Herrgott danken, dass wir ein so schönes Leben gehabt haben. Immer in Treue Dein Hansi

 

Eva Braun ca. 1945/46, besser bekannt als Eva Strittmatter.

 

Eva Braun antwortet am 28. April 1945:

„Mein lieber, guter Hansi!

Morgen ist es einen Monat her, dass ich den Menschen Hansi Deichmann, den ich so liebe, zum letzten Mal sah. Heute vor vier Wochen aber nahm ich Abschied von Dir, doch Du bist zur Stunde immer bei mir geblieben. Ich habe die Kraft, Dich körperlich neben mir zu sehen, mit Dir zu sprechen, es ist alles wie früher. (…) Allein, dass man nach mehr als 14 Tagen wieder etwas von Dir hört, dass Du vielleicht wieder an mich geschrieben hast, die Gewissheit, dass Du wieder oder noch an mich denkst, das ist alles so schön, dass man dafür nicht dankbar genug sein kann. Ich weiß jetzt, dass ich mit dem, was ich Dir am letzten Abend sagte, dass ich immer auf Dich warten werde, Recht habe.

Ich weiß, dass Du das Lebensnotwendigste für mich bist. Hansi, ich weiß, dass Du das gleiche fühlst, wie ich. Dass Du mich liebst und dass ich Dich lieben darf, ist wie ein schöner Traum in aller Schwere der Zeit.

Ich grüße Dich! Und bleibe immer in Treue. Dein Eva.

„Scharführer“ Hansi Deichmann stirbt Ende Mai 1945. Er war bei der Schlacht auf den Seelower Höhen Mitte April 1945 schwer verletzt worden. Der Siebzehnjährige schleppte sich noch nach Berlin. Dort starb er einen Monat später.

Eva Braun (8. Februar 1930 – 3. Januar 2011) wurde als Eva Strittmatter die erfolgreichste Lyrikerin der DDR. Mit ihrem zweiten Ehemann Erwin Strittmatter („Der Laden“) waren die beiden das berühmteste Schriftstellerpaar der DDR. Sie selbst bilanzierte 1968: „Ich hab wenig geschrieben, wenig veröffentlicht und werde weiter so verfahren.“ 1973 erschien ihr erster Gedichtband „Ich mach ein Lied aus Stille“. Dieser verkaufte sich in der DDR 700.000 Mal. Schreiben bedeutete für sie Heilung. Trost suchte und fand sie in der Natur.

 

Das junge Schriftstellerpaar Eva und Erwin Strittmatter beim Einzug im Schulzenhof 1958. Quelle: Aufbau-Verlag

 

Eva Strittmatter: „Die guten Dinge des Lebens sind alle kostenlos/die Luft, das Wasser, die Liebe. Wie machen wir das bloß, das Leben für teuer zu halten, wenn die Hauptsachen kostenlos sind.“

Noch bis 5. Mai 2025. Museum Neuruppin. Eva Strittmatter in Neuruppin. „Stadt, die ich liebte, die mich liebte.“

 

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Willkommen in der „Sperma-Lotterie“

Ist jeder seines Glückes Schmied? Ist Leistung Voraussetzung für Erfolg, Reichtum und Wohlergehen. Nein, andere Faktoren sind entscheidend. Hilfreich ist ein Sechser im Lotto. Noch besser aber ist ein Hauptgewinn in der „Sperma-Lotterie“. Das bedeutet das Glück der privilegierten Geburt. Die 34-jährige Ungleichheitsforscherin Martyna Linartas spricht vom Glück in der Erbengesellschaft, die richtigen Eltern zu haben. In der Regel sind das die Väter. Deutsche Millionäre sind im Durchschnitt 94% westdeutsch, 86% weiß, 77% über fünfzig Jahre alt und zu 69% männlich. Davon profitieren die Erbenkinder von Heilbronn bis Hildesheim.

Martynas Grundthese: Die bundesdeutsche Leistungsgesellschaft hat sich längst in eine Erbengesellschaft verwandelt. Der materielle Reichtum wird in den Familien vererbt. Wer nichts hat, aus dem wird auch nichts mehr. Das mutet wie ein Naturgesetz an. Ist es aber nicht, sagt die FU-Frau in ihrem soeben erschienenen Buch „Unverdiente Ungleichheit“. Ihr aufsehenerregender Befund: In kaum einem anderen westlichen Land sei Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland – Tendenz steigend. „Entgegen der Behauptung, jede/r könne es mit genug Anstrengung zu viel bringen, entscheidet vor allem die Geburt in die richtige Familie darüber, ob man als kleine, superreiche Elite aufwachsen und leben kann.“ Oder eben nicht. Wie sagt der Volksmund so treffend: „Moral ist gut. Erbschaft ist besser.“

 

Die reichsten 252 Männer haben mehr Vermögen als alle 1 Milliarde Frauen und Mädchen in Afrika, Lateinamerika und der Karibik zusammen. | Quelle: Oxfam 2022. (aus Linartas. Ungleichheit.de)

 

Martyna Linartas weiß, wovon sie spricht. 1992 landete sie mit Bruder und ihren polnischen Eltern erst einmal in einem Obdachlosenheim. In ihrer neuen deutschen Heimat lernte sie Armut kennen, aber auch, dass sich Aufstiegswillen lohnt. Ihre Eltern setzten sich durch. Tochter Martyna auch. Zugleich erlebte sie den Arm-Reich-Gegensatz in der eigenen Familie. Ein Teil davon lebt in Mexiko. Ihr Onkel gehört dort zu den Superreichen. So wurde sie vom familieneigenen Chauffeur durch Mexiko-City kutschiert. Aus dem Fenster konnte sie echte Armut aus nächster Nähe erleben

Die junge Forscherin will die müde und erschöpfte Bundesrepublik wachrütteln. Für sie es ein Skandal, dass Menschen unverdient und ohne eigenes Zutun immer reicher werden. Und das nur, weil sie bei ihrer Geburt in der richtigen Wiege liegen. Sie schreibt: „Diese Erbengesellschaft, in der sich vor allem die reichsten zehn Prozent ihre Anteile an Betriebsvermögen untereinander weiterreichen, wird begünstigt durch eine extrem ungerechte Steuerpolitik. Gerade sehr hohe Erbschaften von zwei- oder dreistelligen Millionensummen können fast steuerfrei weitervererbt werden.“ Auch die neue Merz-Klingbeil-Koalition ändere nichts an der unsozialen Steuerpolitik, genau wie die Ampel-Vorgängerregierung. Das verstärke den Frust. Die Wissenschaftlerin hat besonders die SPD im Visier: „Beim Koalitionsvertrag wird nur nach unten getreten, zum Beispiel in der Bürgergeldfrage und nicht ein einziges Mal nach oben geschaut.“

 

 

 

Martyna Linartas fordert höhere Erbschafts- und Vermögenssteuern. Und noch etwas: ein „Grunderbe für alle“. Das soll bei 190.000 Euro pro Kopf liegen, das entspreche 60 % des Durchschnittsvermögens. Ist das nun Umverteilung, Rückverteilung, gar Gleichmacherei wie im Sozialismus? Nein, widerspricht Martyna in ihren Interviews leidenschaftlich. Wenn es gewollt sei, sagt sie, dass nur die Rechte der Stärkeren geschützt und die Schwächeren schikaniert werden, dann „fallen wir zurück ins Dunkle“. Der braune Boden sei fruchtbar. Die Ungleichheitsforscherin ist überzeugt: „Armut ist das Risiko für die Demokratie.“

Martyna Linartas. Unverdiente Ungleichheit. Rowohlt. 2025.

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Die Geister, die er rief…

Als ein guter Freund sechzig wurde, tauchte ein Überraschungsgast als Geburtstagsgeschenk auf. Ganz in Schwarz gekleidet setzte sich ein junger Mann mit strubbeligen Haaren an den Flügel und legte los. Wow! Es war ein Hammer. Mehr noch: Der Höhepunkt des Abends. Von zarten, verspielten Tönen bis zu kräftigen Klangfolgen wie ein Sommergewitter. Der Name des Mannes an den Tasten: Michael Wollny.

Mittlerweile ist mein Freund fast siebzig und Michael Wollny längst ein Star. Er gilt als einer der wichtigsten europäischen Jazzmusiker seiner Generation. Die Süddeutsche Zeitung nennt ihn einen Musiker, der „aus jeder nur erdenklichen Musik ein Erlebnis machen kann, das einem den Atem nimmt“. Für die FAZ ist er der „vollkommene Klaviermeister“.  Jazz-Puristen und Nörgler nennen seinen Sound naserümpfend Himbeerjazz, zu nah am Kitsch.

 

 

Wollnys neues Album heißt Living Ghosts. Vier lange Stücke, live eingespielt mit Bassist Tim Lefebvre und Schlagzeuger Eric Schaefer. Das ist seit Jahren das Michael Wollny-Trio. Warum live? Der 46-Jährige in der ZEIT: „Es ist keine Studioaufnahme, sondern eine reine Live-Improvisation, es zeigt also genau, was wir gerade fühlen und wahrnehmen. Wir lassen Geister, Themen, Erinnerungen auf die Bühne, teilweise ekstatisch, mitunter besessen. Es ist vielleicht eine Heimsuchung, aber eine positive.“

 

Michael Wollny-Trio. Living Ghosts. 2025

 

Wollny lässt die Geister tanzen. Er zaubert sie auf seinen 88 Tasten aus der Flasche. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los. Das ist gut so. Denn sein Jazz ist eine Entdeckungsreise. Ein sehr spezieller Sound zum Aufputschen, dann plötzlich wieder leise, sensibel, zum Wegträumen.

 

 

Musik muss überraschen. Das ist der wesentliche Unterschied zu KI-getriebenen Fertigprodukten. Wollny: „Zu Beginn eines Konzerts wissen wir nie, welche Fragmente von welchen Stücken auftauchen werden oder in welcher Reihenfolge sie sich entfalten werden.“ Dabei experimentiert das 1978 geborene Ausnahmetalent Wollny von Kindesbeinen an. Von Jugend musiziert zum Bundesjazzorchester. Von der Musikhochschule Würzburg bis in die Popcharts. Wollny lebt heute in Leipzig und lehrt als Professor an der Hochschule für Musik und Theater.

Sein KI-betriebener Konzertflügel in Lausanne heißt Lars: Lars für „Listen, Action, Reaction, Silence“. Das digitale Klavier ist für Wollny eine Herausforderung, so eine Art „musikalischer Gymnastikraum“. Michaels Maxime: „Man braucht einen Kompass, muss wissen, wo man hinwill, während man gleichzeitig offen sein muss, Neues über den eigenen Kompass herausfinden.“

 

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Unser täglich Brot

April 1945: „Es ist Frühling, so etwas wie Freude liegt in der Luft. Die ersten Blumen streckten vorwitzig ihre Köpfe hervor“, notiert der französische KZ-Häftling Yves Béon. Die Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich schreibt vor genau achtzig Jahren: „Bis in die letzte Dachkammer soll der Widerstand fortgesetzt werden. Wofür? Damit Herr Hitler sich noch eine Woche länger am Leben hält. Damit Herr Göring seinen Fettbauch weiter mit Gänseleber vollstopft.“  Seit Anfang April wird in Berlin Brot offiziell nur noch mit Hilfe von Sondermarken durch NS-Dienststellen verteilt. Die „Abteilung Wehrmachtspropaganda des Oberkommandos der Wehrmacht“ bemerkt: „Große Missstimmung herrscht in der Bevölkerung der Vororte, die keine Sonderbrotzuteilung erhalten“. Statt Brot gibt es Bomben und nur noch Durchhalteparolen: „Aufgeben niemals! Der Endsieg steht vor der Tür!“ Niemand bei klarem Verstand glaubt noch daran.

 

Die Bäckerei „Treppauf“ in Berlin-Rahnsdorf. In diesem kleinen Laden hat sich Anfang April 1945 eine große Tragödie abgespielt. Das Foto stammt aus DDR-Zeiten. Vermutlich 70er Jahre.

 

Das tägliche Überleben sieht so aus: Für jede/n in Berlin werden noch genau 254 Gramm Brot, 32 Gramm Fleisch und 16 Gramm Fett täglich zugeteilt. Am Freitagmorgen, den 6. April 1945 verbreitet sich im Köpenicker Vorort Rahnsdorf eine Nachricht wie ein Lauffeuer: Den Bäckereien geht das tägliche Brot aus. Das Lebensmittel gibt es nur noch gegen Bezugsschein oder für Wehrmachtsangehörige. Etwa zweihundert Frauen, Kinder und Alte versammeln sich vor der zentralen Bäckerei Deter an der Fürstenwalder Allee 27. Im Volksmund nur „Bäcker treppauf“ genannt. Die Menschen haben Angst und Hunger. Sie fordern Brot. Die nazitreuen Inhaber weigern sich, Brot ohne Marken zu verkaufen. Sie rufen den NS-Ortsgruppenleiter Hans Gathemann herbei.

 

 

 

Als die Menge den kleinen Laden stürmt und tatsächlich einige ein Brot ergattern können, zückt der mit dem Rad herbeigeeilte Nazi-Mann Gathemann seine Pistole und droht „alle Plünderer“ zu erschießen. Es folgen aufgeregte und wütende Wortgefechte. Die Menschen sind verzweifelt. Der 56-jährige Tischlermeister Max Hilliges ruft dem NS-Mann zu: „Gebt den Frauen doch Brot!“ Und: „Du musst Deinen braunen Rock sowieso bald ausziehen.“ Dieser richtige Satz zur falschen Zeit hat tödliche Konsequenzen.

Das NS-Regime nimmt grausam Rache. Als die Menge auseinander stiebt, notieren die Bäckersfrau, zwei Nachbarinnen und der NS-Ortsgruppenleiter insgesamt fünfzehn Namen auf einem Stück Brotpapier. Diese „Aufrührer“ werden noch am selben Abend von Polizei und Gestapo festgenommen. Drei sogenannte „Rädelsführer“, zwei Frauen und der Tischler, werden am Tag darauf im Polizeipräsidium am Alex zum Tode verurteilt. „So muss man vorgehen, wenn man in einer Millionenstadt Ordnung halten will“, notiert NS-Propagandachef Joseph Goebbels zufrieden in sein Tagebuch.

 

Das Ehepaar Walter und Margarete Echlepp. Sie waren in Berlin-Steglitz ausgebombt worden und lebten am Kriegsende 1945 in einer kleinen Datsche im Köpenicker Vorort Rahnsdorf. Margarete wurde „als Rädelsführerin“ für ein Stück Brot hingerichtet. Walter erhielt nach Kriegsende keinerlei Entschädigung, nicht einmal eine Entschuldigung. Foto: privat

 

In der Nacht vom Sonntag zum Montag, vom 7. auf den 8. April 1945, werden Max Hilliges und die 45-jährige Hausfrau Margarete Elchlepp hingerichtet. Die beiden gehören zu den letzten Ermordeten von Plötzensee. Enthauptet für ein Stück Brot. Margaretes Schwester Gertrud „begnadigt“ Goebbels zu zehn Jahren Haft, weil sie Mutter von drei Kindern ist. Die 37-Jährige überlebt das Kriegsende im Zuchthaus Hamburg-Fuhlsbüttel.

 

Berlin-Rahnsdorf im Osten der Hauptstadt. Seit November 2022 erinnert wieder eine Gedenkstele an das NS-Verbrechen vom April 1945. Die erste Gedenktafel an der Bäckerei aus dem Jahre 1998 war jahrelang verschwunden.

 

Wenige Apriltage nach dem Brotaufstand von Rahnsdorf treffen sich in San Francisco Delegierte aus fünfzig Nationen. Sie formulieren in wochenlanger Arbeit insgesamt 111 Artikel der „Charta der Vereinten Nationen“. Aus dem Wahnsinn, Weltkrieg und Naziterror, soll eine bessere Zukunft entstehen. In einem Vorwort zur UNO-Gründung schreibt der Pulitzer-Preisträger Stephen Vincent Benét hoffnungsfroh:

„Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im großen Weltall. An uns liegt es, daraus einen Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und Furcht gequält, nicht zerrissen in sinnlose Trennung nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung. Gib uns den Mut und die Voraussicht, schon heute mit diesem Werk zu beginnen, damit unsere Kinder und Kindeskinder einst stolz den Namen Mensch tragen.“

Es ist eine Binse. Aber sie ist aktueller denn je. Erinnern ist handeln.