Archive for : Mai, 2025

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„Eins auf die Fresse!“

Lieben Sie Ihre Heimat? Ihr Dorf, Ihren Kiez oder Ihr Land? Liegt da nicht einiges im Argen? Wollen oder können Sie es besser machen? Verantwortung übernehmen? Bürgermeisterin oder Abgeordneter werden? Tja! Es gibt viel zu tun: In Zeiten von Brückenabrissen, Schlaglöchern, stinkenden Schultoiletten, maroden Schulen, kaputten Sportplätzen und ungeheizten Freibädern. Ja, das Land ist nicht in Ordnung. Landauf, landab überfüllte Kitas, fehlende Pflegestellen, explodierende Mieten, steigende Schulden bei sinkenden Einnahmen.  Wer will da den Hut aufhaben? Bei geringem Gehalt und großem Zeitaufwand?

 

Deutschland im Mai 2025. Die Idylle trügt. Außerhalb der Berliner Blase braut sich etwas zusammen.

 

Es hat sich viel verändert im Land. Bürgermeister spüren es zuerst. „Kommunalpolitiker sind das Gesicht vor Ort“, heißt es so schön und die müssen sich so einiges gefallen lassen. Am besten eins in die …. drohen Maulhelden im Netz oder auf dem Dorffest. Mehr als jede dritte Amtsperson erlebt im Alltag verbale und/oder digitale Beleidigungen, Bedrohungen und Übergriffe, manche sogar mehrfach. Laut Bundeskriminalamt sind im letzten Jahr bundesweit 4.923 Straftaten gegen Mandatsträger registriert worden. Die Konsequenz: Viele wollen nicht mehr. Jeder vierte Bürgermeister möchte sein Amt am liebsten aufgeben. Das gilt übrigens auch für Menschen, die sich ehrenamtlich besonders engagieren. Auch sie erleben Hass und Hetze.

 

Gerald Lehmann. Parteiloser Bürgermeister in Luckau/Brandenburg. „Demokratie entscheidet sich am Gartenzaun.“ Quelle: Stadt Luckau

 

Was tun? Evangelische Kirche und öffentlich-rechtliches RBB-Radio hatten zur Bestandsaufnahme im Französischen Dom eingeladen. Schnell wird in Berlin klar. Die Lage vor Ort hat sich zugespitzt. Miteinander geredet wird kaum noch, aneinander vorbei umso mehr. Es ist die Zeit der Feindbilder. Ein parteiloser Bürgermeister aus Luckau im Spreewald erzählt von ständigen Anfeindungen, aber auch, dass er weitermacht. Weil er davon überzeugt sei, die Mehrheit seiner Kleinstadt hinter sich zu wissen. Auf bösartige Diffamierungen müsse man reagieren. „Man muss dem Hass ein Gesicht geben“. Doch Ross und Reiter zu nennen, erfordert in kleinen Orten, wo jeder jeden kennt, viel Mut. Der Bürgermeister bleibt zuversichtlich. „Meine Helden sind alle Ehrenamtlichen.“ Woher Gerald Lehmann aus Luckau seine Kraft nimmt, bleibt bewundernswert.

 

 

Eine junge Bundestagsabgeordnete aus Cottbus zog im Wahlkampf mit dem Bollerwagen von Dorf zu Dorf. Ein Auswärtsspiel für die SPD-Frau Maja Wallstein im tiefblauen AfD-Lausitz-Land. Zuhören, nach Lösungen suchen, das sei anstrengend, sagt sie, aber möglich. Manchmal gelinge ihr zwischen Jägerzaun und Klatschmohn klarzustellen: In Zeiten zunehmender Einbrüche seien „nicht Ausländer Schuld, sondern Menschen, die kriminell sind.“ Auch Maja Wallstein wirkt furchtlos, obwohl die schmale Abgeordnete einräumt, auch schon mal ans Aufhören gedacht zu haben. „Aber ich will was für meine Töchter und mein Land tun.“

 

Tileman Wiarda. Evangelischer Pastor. Auf dem Weg von Jüterbog in Brandenburg zu einer neuen Stelle an der Nordsee. Quelle: Victoria Barnack

 

Der brandenburgische Pfarrer Tileman Wiarda ist ein stabiler, unerschütterlicher Mann. Und dennoch lässt er sich nach jahrelangen Dauerfehden mit einer starken AfD jetzt von Jüterbog an die Nordsee versetzen. Er wolle nicht mehr ständig als „schlechter, links grün-versiffter Pfarrer“ beschimpft werden, nur weil er sich um Dialog bemüht habe. Kirche müsse für alle offen sein, sagt der wortgewandte Gottesmann. Das sei wichtiger denn je, aber bei ihm in Jüterbog kaum noch möglich. Der Mann ist sichtlich erschöpft.

Am Ende der knapp anderthalbstündigen Gesprächsrunde fragt eine vielleicht zwölfjährige Schülerin den Pfarrer: „Wenn 1933 alles angefangen habe und erst 1945 zu Ende gegangen sei, und jetzt alles wieder möglicherweise so wäre wie damals: Bekommen wir dann Krieg?“ Im Französischen Dom wird es still. Der Pfarrer aus Jüterbog überlegt, ringt um eine passende Antwort und sagt: „Das hoffe ich nicht. Wir müssen am besten die zwölf Jahre überspringen.“

Können wir unsere unruhige Gegenwart vorspulen, um die Geister der NS-Vergangenheit in der Flasche zu lassen? Gelingt uns das? Ein spannender Gedanke für den Nachhauseweg.

 

Hilfe für Amts- und Mandatsträger gibt es bei Stark im Amt.

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„Das Land, das ich liebe“

Putins Russland. Es demonstriert Stärke, Gewalt und Härte. Der Kreml schickt seine Soldaten massenweise in den Tod. Seit drei Jahren. Die Ukraine soll unterworfen werden, offenbar um jeden Preis. Widerstand im eigenen Land scheint zwecklos. Eine nennenswerte Opposition gibt es praktisch nicht mehr. Die Repression läuft auf Hochtouren, wie einst in Stalins Zeiten. Heute reicht ein falscher Like, um hinter Gittern zu landen. Oder ein leeres Stück Papier, hochgehalten auf dem Roten Platz. Die Arbeitslager in den Weiten des Landes sind gut gefüllt. Selbst Anwälte von Regimegegnern wie des im Lager gestorbenen Alexej Nawalny werden eingesperrt. Willkommen in Putins Gulag.

 

Frank Gaudlitz. Kosmos Russland.

 

Zehntausende Oppositionelle und Regimegegner haben seit dem Großen Kriegsbeginn im Februar 2022 ihre Heimat verlassen. Kein Wunder: Als die Invasion begann, „sind in Russland 21.000 Verfahren eröffnet worden gegen die Menschen, die aus Protest auf die Straße gegangen sind. Es gibt rund 1.500 politische Gefangene mit langen Haftstrafen. Für einen Like in den sozialen Medien kann man sechs Jahre Gefängnis bekommen“, erklärt Dmitri Andrejewitsch Muratow, Mitbegründer der verbotenen Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“. Der Nobelpreisträger ist einer der letzten unabhängigen Journalisten Russlands, der noch in Moskau lebt.

Für Journalist Muratow ist der Deutsche Dietrich Bonhoeffer sein Vorbild und Lieblingsphilosoph. Warum? Muratow sagt in einem Zeit-Interview: „In einer Diktatur muss man den Allernächsten helfen. Man muss den Menschen, die sich einsam fühlen, deren Werte verletzt wurden, sagen: Ihr seid nicht allein! Ich stimme Bonhoeffer zu. Wir haben Hunderttausende Leser, die Unterstützung brauchen. (…) Der zweite Gedanke, den Bonhoeffer ausgedrückt hat: Die Diktatur will den Menschen total beherrschen. Man muss helfen, den Abstand zum Bösen zu halten.“ Und ein letzter Muratow/Bonhoeffer-Gedanke: „Das Böse hat das Gute besiegt. Aber das heißt nicht, dass du auf die Seite der Sieger wechseln musst.“

 

 

Junge, mutige Frauen wie Vera Politkowskaja, Tochter der 2006 ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, oder Jelena Kostjutschenko, mussten nach der Invasion ihre Heimat verlassen. Sie geben in ihren Büchern „dem anderen Russland“ Stimme und Gesicht. Beide Frauen sagen: „Wir lieben unser Land.“ Trotz alledem. Sie glauben: Russland könne nur eine Zukunft haben, wenn ihr Land das System Putin abschüttelt.

 

Mit Irina Sherbakowa in Leipzig im Herbst 2022. Kurz zuvor musste die Friedensnobelpreisträgerin und Memorial-Mitbegründerin Russland verlassen. Seitdem lebt sie im deutschen Exil.

 

Davon ist auch Irina Sherbakowa überzeugt. Die Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ wurde 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Das unabhängige, russische Netzwerk hat Putin als «ausländische Agentenorganisation» verbieten lassen. Die unerschrockene Publizistin arbeitet im deutschen Exil an ihrem neuen Buch. Es heißt: Der Schlüssel würde noch passen“ und soll im November 2025 erscheinen. Sherbakowa über ihr Russland: „Man darf den Staat nicht mit dem Land verwechseln.“

Wer mehr über das andere Russland erfahren will: Memorial. Erinnern ist Widerstand. C.H. Beck. Mai 2025.

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Echt oder falsch?

Was ist richtig, was falsch? Was ist wahr, was sind Fake News? Wem ist in KI-Zeiten (noch) zu trauen? Überhaupt: Wie objektiv können Medien überhaupt sein? Berichten die Öffentlich-Rechtlichen wirklich fair und unabhängig? Fragen, die viele beschäftigen. Seit knapp einem Jahr reise ich mit kurzen Referaten, vielen Beispielen und ganz wichtig – langen offenen Gesprächen ohne gecastetes Publikum – durch die sächsische Provinz.

Jeder Auftritt ist ein Wagnis. Nie weiß ich, was mich erwartet. Der Eintritt ist frei. Begegnungen auf Einladung von Kulturhäusern, Kirchengemeinden oder Volkshochschulen, vermittelt von Dirk Lienig, einem der Köpfe der Kulturfabrik Hoyerswerda. Ja genau, Hoyerswerda! Bundesweit bekannt durch Ausschreitungen Anfang der Neunziger. Eine schrumpfende Stadt wie keine andere in Ostdeutschland. Heimat des legendären Liedermachers Gundi Gundermann.

 

Laubusch, Landkreis Bautzen. Eine Kirche, eine Schule, ein Kulturhaus. Keine Braunkohle mehr, aber ein aufgewecktes Publikum.

 

In Sachsen bin ich seit Sommer 2024 immer wieder unterwegs. Die Region Oberlausitz in Ostsachsen ist eine geschundene Region. Einst stolzes Energiezentrum der DDR. Braunkohle, Tagebau. Wende. Transformation. Abwanderung. Stillstand. Bis heute eine „abgehängte“ Gegend, aufgeladen mit stabilen Klischees und Vorurteilen. Kurz: Aus Berliner Nase-weit-oben-Sicht: Das Herz von AfD-Dunkel-Deutschland.

Laubusch ist eine kleine ehemalige Tagebaustadt zwischen Hoyerswerda und Senftenberg. Nahezu ein Jahrhundert lang wurde hier Braunkohle gefördert, nach dem II. Weltkrieg  Briketts produziert. Das Kulturhaus aus dem Jahre 1932 steht mitten im Zentrum der Gartenstadt „Erika“ aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts.  Das aktuelle Kultur-Programm reicht von der Vorführung des Hundesportvereins über Jugendweihe und Kneipenquiz bis zu Kinoabenden, Familien- und Kinderfesten bis zur beliebten „Kula Dance-Night“.  Disko geht immer.

 

 

Bei meinem Laubusch-Termin soll es vorrangig um die Frage gehen, wie im KI-Zeitalter Dichtung und Wahrheit auseinandergehalten werden können. Die Skepsis der knapp zwei Dutzend Besucher ist mit Händen zu greifen, als das Thema Öffentlich-Rechtliche erreicht ist. Jetzt verwandelt sich das Misstrauen der sächsischen Best Agers in Ablehnung, Trotz und Glaubensbekenntnisse. Das klingt ungefähr so: „Seit Corona glauben wir Euch nichts mehr!“ – „ARD und ZDF berichten einseitig und falsch!“ – „Die machen sowieso, was sie wollen!“ – „Ich kann sagen, was ich will, aber es bringt nichts.“ – „Niemand hört auf uns.“ – „Warum haut Ihr auf die Ossis so ein?“

Laubusch ist kein Einzelfall. Konkrete Erfahrungen aus dem Alltag werden erzählt. Die Teilnahme an einer BSW-Demo und wie danach darüber berichtet wird. Die Medien würden, die immer gleichen zu Wort kommen lassen, quasi gleichgeschaltet sein. Eine mittelalte Frau sagt besonders energisch, genau wie früher in der DDR. Andere berichten, sie schauten nur noch Welt-TV oder YouTube. Die seien objektiver. Am meisten beklagen die vorwiegend älteren Menschen, was weggelassen wird. Die Reporter seien unwissend und unhöflich. AfD-Leuten würden sie ständig ins Wort fallen. Gefühlt wählt im Laubuscher Kulturhaus im Landkreis Bautzen wohl jede/r Zweite AfD.

 

Zwischen Vorführung des Hundesportvereins und Blutspendetermin das Thema: „Wie objektiv können Medien sein?“ Der Eintritt ist frei.

 

Ich versuche tapfer dagegenzuhalten, unabhängige Medien seien in Umbruchzeiten wichtiger denn je. Journalismus müsse informieren statt belehren, aufklären statt manipulieren. Ob das ankommt? Ich weiß es nicht. „Wenn die Freiheit etwas bedeuten soll, dann das Recht, Menschen zu sagen, was sie nicht hören wollen“, denke ich an George Orwell.

Nach zwei intensiven Stunden erinnere ich in der Schlussrunde an Winston Churchill, der einmal sinngemäß gesagt hat, Demokratie sei ein ziemlich beschissenes System, aber er kenne kein besseres. Die jüngere Frau, die an diesem Tag in Laubusch die öffentlich-rechtlichen Medien besonders heftig in Grund und Boden kritisiert hat, spendiert mir nach dem Ende der Veranstaltung das letzte Stück selbstgebackenen Käsekuchen.

 

Transparenzhinweis: Nahezu vier Jahrzehnte habe ich für das ZDF gearbeitet.

 

Was ist echt, was falsch? Hier die Auflösung: Links die echte Mathilde Gvarliani. Rechts die KI-Version. Mathilde ist das Gesicht einer H&M-Werbekampagne. Quelle: Zeit April 2025

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Mein anderes Amerika

Es gibt sie noch: gute Nachrichten aus den Vereinigten Staaten. Ende Juni 2025 bringt Bruce Springsteen einen Riesen-Schwung seiner Lost Songs heraus. Allesamt unveröffentlichte Lieder aus seinen persönlichen Archiven und Kellern. Auf einen Schlag kommen 83 bisher ungehörte Songs aus fast vierzig Jahren auf den Markt. Sie stammen aus der Zeit von 1983 bis 2018. Mit „Rain In The River“ spendiert der „Boss“ zusätzlich einen neuen Song. Ein gerade vorab veröffentlichtes Lied aus dem Jahr 1994 heißt Blind Spot. Der Text könnte aktueller nicht sein: „Everybody’s got a blind spot, that brings ‚em down/ Everybody’s got a blind spot, they can’t get around.“

 

 

„Jeder hat einen blinden Fleck, der ihn zu Fall bringt.“ Gut zu wissen in Zeiten, in denen sich der amtierende US-Präsident Pfauen-gleich wie ein Gott, Kaiser und Papst zugleich aufführt.  Mit „Blind Spot“ kehrt Bruce Springsteen zu den nie gehörten „Streets of Philadelphia Sessions“ zurück. Für „Streets of Philadelphia“ erhielt Bruce Springsteen 1994 den Song-Oscar. Das ist lange her, dreißig Jahre.  Dieser und alle anderen achtzig Songs erscheinen demnächst in der Mega-Box „Tracks II: The Lost Albums“. Es sind insgesamt sieben bislang unveröffentlichte Studioalben.

 

Der Boss zur Lage in den USA: „Das Land, das ich liebe“. Manchester, 15. Mai 2025

 

Nichts wegwerfen. Irgendwann kommt der passende Zeitpunkt. Dann heißt es: Beste Grüße aus dem Archiv. Dem Fachblatt Rolling Stone sagte Springsteen: „All diese LPs sind vollständig ausgearbeitete Alben – einige fast fertig gemischt – die jedoch nie veröffentlicht wurden. Über die Jahre habe ich sie mir immer wieder angehört oder Freunden vorgespielt. Jetzt ist die Zeit gekommen, sie mit euch zu teilen. Ich hoffe, sie gefallen euch.“

 

 

In diesem Sommer geht der 75-jährige Altmeister wieder einmal auf Welttournee. Der Botschafter des anderen Amerikas. Zum Beispiel am 11. Juni 2025 im Berliner Olympiastadion. Am 27. Juni 2025 werden seine 83 neuen, alten Songs auf „Tracks II: The Lost Albums“ veröffentlicht.