Wer die polit. Bühne betritt, braucht viel Selbstbewusstsein und starke Nerven. Bodyremix. Foto: Sylvie AnnPare

„Eins auf die Fresse!“

Lieben Sie Ihre Heimat? Ihr Dorf, Ihren Kiez oder Ihr Land? Liegt da nicht einiges im Argen? Wollen oder können Sie es besser machen? Verantwortung übernehmen? Bürgermeisterin oder Abgeordneter werden? Tja! Es gibt viel zu tun: In Zeiten von Brückenabrissen, Schlaglöchern, stinkenden Schultoiletten, maroden Schulen, kaputten Sportplätzen und ungeheizten Freibädern. Ja, das Land ist nicht in Ordnung. Landauf, landab überfüllte Kitas, fehlende Pflegestellen, explodierende Mieten, steigende Schulden bei sinkenden Einnahmen.  Wer will da den Hut aufhaben? Bei geringem Gehalt und großem Zeitaufwand?

 

Deutschland im Mai 2025. Die Idylle trügt. Außerhalb der Berliner Blase braut sich etwas zusammen.

 

Es hat sich viel verändert im Land. Bürgermeister spüren es zuerst. „Kommunalpolitiker sind das Gesicht vor Ort“, heißt es so schön und die müssen sich so einiges gefallen lassen. Am besten eins in die …. drohen Maulhelden im Netz oder auf dem Dorffest. Mehr als jede dritte Amtsperson erlebt im Alltag verbale und/oder digitale Beleidigungen, Bedrohungen und Übergriffe, manche sogar mehrfach. Laut Bundeskriminalamt sind im letzten Jahr bundesweit 4.923 Straftaten gegen Mandatsträger registriert worden. Die Konsequenz: Viele wollen nicht mehr. Jeder vierte Bürgermeister möchte sein Amt am liebsten aufgeben. Das gilt übrigens auch für Menschen, die sich ehrenamtlich besonders engagieren. Auch sie erleben Hass und Hetze.

 

Gerald Lehmann. Parteiloser Bürgermeister in Luckau/Brandenburg. „Demokratie entscheidet sich am Gartenzaun.“ Quelle: Stadt Luckau

 

Was tun? Evangelische Kirche und öffentlich-rechtliches RBB-Radio hatten zur Bestandsaufnahme im Französischen Dom eingeladen. Schnell wird in Berlin klar. Die Lage vor Ort hat sich zugespitzt. Miteinander geredet wird kaum noch, aneinander vorbei umso mehr. Es ist die Zeit der Feindbilder. Ein parteiloser Bürgermeister aus Luckau im Spreewald erzählt von ständigen Anfeindungen, aber auch, dass er weitermacht. Weil er davon überzeugt sei, die Mehrheit seiner Kleinstadt hinter sich zu wissen. Auf bösartige Diffamierungen müsse man reagieren. „Man muss dem Hass ein Gesicht geben“. Doch Ross und Reiter zu nennen, erfordert in kleinen Orten, wo jeder jeden kennt, viel Mut. Der Bürgermeister bleibt zuversichtlich. „Meine Helden sind alle Ehrenamtlichen.“ Woher Gerald Lehmann aus Luckau seine Kraft nimmt, bleibt bewundernswert.

 

 

Eine junge Bundestagsabgeordnete aus Cottbus zog im Wahlkampf mit dem Bollerwagen von Dorf zu Dorf. Ein Auswärtsspiel für die SPD-Frau Maja Wallstein im tiefblauen AfD-Lausitz-Land. Zuhören, nach Lösungen suchen, das sei anstrengend, sagt sie, aber möglich. Manchmal gelinge ihr zwischen Jägerzaun und Klatschmohn klarzustellen: In Zeiten zunehmender Einbrüche seien „nicht Ausländer Schuld, sondern Menschen, die kriminell sind.“ Auch Maja Wallstein wirkt furchtlos, obwohl die schmale Abgeordnete einräumt, auch schon mal ans Aufhören gedacht zu haben. „Aber ich will was für meine Töchter und mein Land tun.“

 

Tileman Wiarda. Evangelischer Pastor. Auf dem Weg von Jüterbog in Brandenburg zu einer neuen Stelle an der Nordsee. Quelle: Victoria Barnack

 

Der brandenburgische Pfarrer Tileman Wiarda ist ein stabiler, unerschütterlicher Mann. Und dennoch lässt er sich nach jahrelangen Dauerfehden mit einer starken AfD jetzt von Jüterbog an die Nordsee versetzen. Er wolle nicht mehr ständig als „schlechter, links grün-versiffter Pfarrer“ beschimpft werden, nur weil er sich um Dialog bemüht habe. Kirche müsse für alle offen sein, sagt der wortgewandte Gottesmann. Das sei wichtiger denn je, aber bei ihm in Jüterbog kaum noch möglich. Der Mann ist sichtlich erschöpft.

Am Ende der knapp anderthalbstündigen Gesprächsrunde fragt eine vielleicht zwölfjährige Schülerin den Pfarrer: „Wenn 1933 alles angefangen habe und erst 1945 zu Ende gegangen sei, und jetzt alles wieder möglicherweise so wäre wie damals: Bekommen wir dann Krieg?“ Im Französischen Dom wird es still. Der Pfarrer aus Jüterbog überlegt, ringt um eine passende Antwort und sagt: „Das hoffe ich nicht. Wir müssen am besten die zwölf Jahre überspringen.“

Können wir unsere unruhige Gegenwart vorspulen, um die Geister der NS-Vergangenheit in der Flasche zu lassen? Gelingt uns das? Ein spannender Gedanke für den Nachhauseweg.

 

Hilfe für Amts- und Mandatsträger gibt es bei Stark im Amt.

1 comment

  • Stefan Ott

    Aidan Grabowski ist 20. Vor ein paar Monaten, auf dem Weg zur Uni, hat ihn am Bahnhof ein langhaariger Rechtsanwalt angesprochen. Ob er nicht für den Stadtrat kandidieren wolle, er habe das auch mit 18 getan und geschadet habe es ihm nicht. Besser als Pizzataxifahren, es gebe eine kleine Aufwandsentschädigung und was in die Birne. Überhaupt, die Jugend müsse ihre Interessen selbst vertreten, nur zu dumm, dass sie nicht mehr existent sei, wenn sie das einsehe. Es bräuchte Strukturen, in denen es selbstverständlich sei, dass die Jugend mitbestimmt.

    Zuhause im Internet konnte er nachlesen, dass es der Anwalt ernst meint. Drei Versammlungen und einen Erstwählerbrief später hat gestern die Wählergruppe „Junge Ratsmitglieder, Liste U30“ ihre Wahlvorschläge im Rathaus abgegeben: Aidan, Max, Sarah, Eric und Tim auf der Reserveliste und der Rest der Familien stellen die 22 Direktkandidaten.

    „Fragen statt Phrasen“ lautet ihre Wahlkampfstrategie. Wie auch sonst soll es funktionieren, wenn man sich bis gestern kaum für Kommunalpolitik interessiert hat? Was wollen Sie denn für unsere Stadt konkret tun, Herr Kandidat? Was ist ihnen denn wichtig, Frau Wählerin? Aber nicht ich, sondern Sie kandidieren doch, Herr Kandidat! Aber warum kandidieren Sie denn nicht, Frau Wählerin?

    Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Menschen das Konzept verstanden haben und an die Azubis keine Erwartungen mehr knüpfen, die selbst der Chef kaum erfüllen kann.

    Der Verein Mehr Demokratie e.V. mit Sitz in Berlin hat das Konzept verstanden und einstimmig auf der letzten Bundesmitgliederversammlung im Mai beschlossen, die Gründung eines Jungen Zukunftsrats zu unterstützen. Stimmberechtigt im Jungen Zukunftsrat sollen Deutschlands Ratsmitglieder U-30 sein.

    Aidan Grabowski ist 20. Er singt im Chor und dient bei der freiwilligen Feuerwehr. Er kratzt dich von der Straße oder holt dich aus einem brennenden Haus, wenn es sein muss. „Etwas auf die Fresse“ würde ich ihm nicht anbieten.

    Lieber Herr Läpple, vielen Dank für Ihren Artikel und beste Grüße aus der ostwestfälischen Provinz.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..