Raus aus der Blase
„Sind Sie Millionär? Was verdient man als Journalist? Wie sind Sie zum ZDF gekommen? Welche Stars waren zickig? Haben Sie Alice Weidel interviewt?“. Fragen von 15- bis 18-Jährigen an mich. Seit einigen Jahren bin ich als eine Art Handlungsreisender in Sachen Medien und Journalismus unterwegs. Ohne Köfferchen, ohne kostenlose Probepäckchen, nur mit einem USB-Stick und der Freude vor Ort, meine Berufserfahrungen zu teilen. Oder auszutauschen. Journalismus macht Schule, so heißt das Projekt seit 2019. Eine Erfolgsgeschichte.
Seit meinem Ruhestand vor genau einem Jahr ist mein Radius deutlich kleiner geworden. Kein TV-Millionenpublikum mehr. Keine Promis. Keine großen Reisen. Statt New York, Prag oder Paris, nun also Finsterwalde, Groß-Köris, Hoyerswerda. Laubusch. Wandlitz. Weißwasser oder Wittichenau. Allerdings sind meine Erfahrungen und Eindrücke keineswegs geschrumpft. Im Gegenteil. Ich erlebe (m)ein Land im Umbruch. Aus erster Hand. Ich besuche mit meinem angehäuften Wissens-Krempel Unis, sächsische Kleinstädte und berlin-brandenburgische Schulen. Jedes Mal ein Abenteuer.

Woran erkenne ich Fake News? Bei „Papst Donald“ ist es leicht. Eine echte Fälschung, aus dem Weißen Haus.
„Berichten Medien objektiv? Kann man Nachrichten vertrauen? Was läuft gut, was schief?“ Aus den Schulen kommen die Hilferufe um Unterstützung. Aus allen Himmelsrichtungen, Schulformen und Klassenstufen. Häufig sind es Lehrerinnen, die besonders ihre jung-männlichen Testosteron-Schützlinge kaum bändigen können. Die Pädagoginnen schildern mir bevorzugt in gendergerechter Sprache die Probleme „mit ihren Schüler*innen“. Es geht um Vorurteile, Klischees und rechte Vorkommnisse. Meistens sind die Lehrerinnen ratlos. Da werden Hakenkreuze in Schulbänke geritzt oder rechte Bands im Sportunterricht gehört. Als eine Lehrerin die Mutter eines beteiligten Schülers zum klärenden Gespräch bittet, antwortet diese patzig: „Es geht Sie überhaupt nichts an, was bei uns zu Hause gehört wird.“
Ein fünfzehnjähriges Mädchen aus einer Kleinstadt-Oberschule sucht nach den üblichen neunzig Minuten „Medienkunde“ das persönliche Gespräch. Nennen wir sie Nelly. Ein kluges, aufgewecktes Mädchen mit Brille und Nasenpiercing. Voll krass, erzählt sie. Wie ihr und ihren Freundinnen „abends gegen 20 Uhr“ Männer hinterherlaufen und sie „anbaggern“. „Nur weil wir Mädchen sind“, empört sich Nelly. Es seien vor allem Jungs aus dem Flüchtlingsheim, sagt sie noch. Nelly: „Ich fürchte mich vor Männern“. Schlimm sei das, „ich fühle mich nicht mehr sicher“. Die 15-Jährige bemerkt meinen Schnupfen. „Hab ich schon länger“, sage ich. „Bekomme ich einfach nicht los“. Nelly antwortet, lang anhaltende, hartnäckige Erkältungen kommen vom Impfen gegen Corona. Das sei doch bekannt. Sie lächelt mich wissend an und verschwindet auf den Schulhof. Die Jungs aus der letzten Reihe markieren den starken Mann und verlassen johlend das Klassenzimmer.

Wer ist echt, wer ist KI-generiert? Lösung: Mathilda Gvarliani, links im Bild. Aushängeschild einer H&M-Kampagne.
Die Lehrerinnen sind in der Regel junge Frauen. Sie berichten, dass sich ihre Klassen nicht für Politik interessieren. Sie seien in der Regel apathisch, halten sich raus. Der Trend weise eindeutig nach rechts. An den meisten Schulen werde die AfD bei Probeabstimmungen zur Bundestagswahl stärkste Partei, erfahre ich. Manchmal kommen Sprüche wie: „Die Tagesschau lügt!“ Oder: „Der ist mega schwul!“ Die Kids tummeln sie sich nach der Schule am liebsten auf YouTube, TikTok, WhatsApp oder Netflix. In den Schulen, in denen ich war, gilt im Unterricht Handyverbot. Die geliebten Smartphones müssen in einem Fach mit Nummern deponiert werden. Folglich kann eine Schulstunde verdammt lang werden. Konzentration ist für viele ein Fremdwort. Mein Respekt für die Lehrkräfte wächst mit jedem Besuch.
Die Welt in Finsterwalde oder Weißwasser ist anders. Es ist wichtig, die Berliner Blase zu verlassen. Jedes Mal komme ich ein kleines Stück klüger zurück. Und nicht selten kommt es mir wie eine Weltreise vor.