„Die Wahrheit wird Euch freimachen“
Mein Herz klopft doppelt so schnell. Wir verlassen den George Washington Parkway an der Abfahrt Langley. Die Straße mündet plötzlich in einem gigantischen Checkpoint mit zahllosen Fahrspuren und Kontrollhäuschen. Es ist im Herbst 1998. Wir sind am Hauptquartier der CIA angekommen. Hier residiert der mächtigste Geheimdienst der Welt. Unser Mietwagen wird von einem Wachposten sofort zur Seite gewunken. In herrischem Ton fragt er: Wer sind Sie? Was wollen Sie hier? Haben Sie eine Erlaubnis?
Ende einer Dienstfahrt. Schlusspunkt eines Versuchs mit der CIA, direkten Kontakt aufzunehmen. Zugegeben: es war natürlich naiv. Aber ich wollte für eine ZDF-Reportage herausfinden, ob wir die Rosenholz-Akten einsehen können. Oder wenigstens mit jemandem darüber reden. Die Rosenholz-Aktion war ein typischer CIA-Coup am Ende des Kalten Krieges. Die US-Geheimdienstler hatten sich mithilfe eines Moskauer Überläufers gegen Dollars die Daten von über 1.500 aktiven Westagenten der Stasi besorgt. Eine Auskunft bekamen wir nicht. Dafür mit hoher Sicherheit eine eigene Akte in ihrer CIA-Datenbank.
Womit wir damals kläglich gescheitert sind, ist dem zweifachen US-Pulitzerpreisträger Tim Weiner eindrucksvoll gelungen – hinter die Kulissen des omnipräsenten Geheimclubs zu schauen. Auf über 550 Seiten berichtet der frühere Korrespondent der New York Times in seinem neuen Buch über: Die Mission. Die CIA im 21. Jahrhundert. Der CIA-Mythos. Das Auge, Ohr und scharfe Schwert der Vereinigten Staaten seit 1947. Weltweit. 24/7. Was ist typisch für die Männer und Frauen von Langley? „Spionage, Infiltration, Rekrutierung, Desinformation, Sabotage und direkte Aktion – ‚also Tötung von Menschen‘, schreibt Tim Weiner. Das volle Programm: Regimewechsel, geheime Gefängnissysteme, Undercover- und Zersetzungsmaßnahmen. „Geld ist die effektivste Waffe der CIA“. Leugnen und Täuschen das tägliche Geschäft. „Spionage ist überall illegal. Täuschung ist ihr Wesen, und Lügen sind ihr Schutzschild.“
Das 21. Jahrhundert beginnt in der US-Logik mit dem Anschlag vom 11. September 2001. Der Ground Zero, das totale Versagen der amerikanischen Geheimdienste. Was folgt, war der Auftakt zum Krieg gegen den Terror, der bis heute anhält. Die Spionagetruppe CIA führte seitdem, laut Weiner, Aktionen in 92 Nationen durch. Das Budget wurde auf drei Milliarden Dollar verdoppelt. Entscheidender noch: Es gibt die Lizenz zu töten. Die CIA wird im Ausland zu einer paramilitärischen Truppe im Kampfeinsatz umgebaut. Teams von Auftragsmördern sind unterwegs. Der Geheimdienst leistet sich „Killertrupps“. Diese liquidieren tatsächliche und vermeintliche Terroristen. Da kann eine Hellfire-Rakete, gesteuert in Katar, abgefeuert von einer Kampfdrohne mal in Kabul eine neunköpfige Großfamilie, darunter sieben Kinder auslöschen. „Kollateralschaden“. Opfer einer Verwechslung.

CIA-Hauptquartier in Langley, Virginia, USA. 2014. Übrigens: Der neue BND-Bau in Berlin-Mitte ist größer.
Minutiös zeichnet Weiners Insider-Buch den zwanzigjährigen Afghanistan-Einsatz nach. Der installierte afghanische Präsident Karzai sei stets eine Marionette der CIA geblieben. Ein Mann ohne Macht und Autorität. Und: „Ein Musterbeispiel für die Behauptung, dass Macht korrumpiert“. Die Operation Enduring Freedom – laut George W. Bush „ein guter, ein gerechter Krieg“ – endet im August 2021 im totalen Desaster. Afghanistan wird zum zweiten Vietnam der Vereinigten Staaten. Die bittere Pointe: Abzug und Evakuierung der USA aus Afghanistan gerät zur politischen Katastrophe für Präsident Biden. Nach Weiner der „Giftbecher“ den Donald J. Trump seinem Nachfolger Biden als Abschiedsgeschenk überreicht hat – „das mit den Taliban geschlossene Doha-Abkommen“.
Der Afghanistan-Komplex zeigt All- und Ohnmacht einer Weltmacht. Washington verfügt mit der CIA über einen der effektivsten Geheimdienste der Welt, aber auch diesem sind Grenzen gesetzt. Doch jetzt seien nicht Russland, Iran, Taliban, Hamas oder China die größte Bedrohung. Vielmehr drohe Friendly Fire direkt aus dem Weißen Haus. Weiner notiert: „Dieses Buch erscheint in einer Zeit großer Gefahr. Zu den größten Herausforderungen für die CIA in der nächsten Zeit wird der Mann im Weißen Haus gehören. Ein autoritärer Führer, der die augenfälligste Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten seit dem Beginn dieses Jahrhunderts darstellt.“

Tim Weiner. Im Anhang schreibt er: „Gut möglich, dass es (sein Buch über die CIA) für einige Zeit das Letzte seiner Art sein wird.“
In der Eingangshalle von Langley, in die ich nie gelangt bin, steht das Motto des legendären US-Geheimdienstes: „Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das Bibelzitat aus dem Johannes-Evangelium 8,32 erzählt die Geschichte von Jesus, der seinen Jüngern in großer Gefahr zuruft: „Nur die Wahrheit führt zur Freiheit.“