Am Ende der Welt
Sommerzeit, Reisezeit. Die Autobahnen sind voll. Rechts eine endlose LKW-Karawane, häufig zweispurig blockiert. Links eine glitzernde Perlenkette von Wohnmobilen, Familienkutschen, eiligen Kleintransportern, Dränglern und Rasern. Überall Baustellen. Stillstand. Kilometerlange Staus in der Augusthitze. Wenn es dreispurig weitergeht, wird sofort auf die Tube gedrückt. Frust-Raserei, als gebe es kein Morgen. Bis zur nächsten Baustelle oder bis zur nächsten Vollsperrung. Der Grund: Massenkarambolage. Wieder Stillstand. Der Stau macht alle gleich. Vom Porschefahrer bis zum rumänischen Schwertransporter. Irgendwann kommt Bewegung in die Blechlawine. Weiter geht’s. Bis zum nächsten Halt. Für die Strecke Stuttgart – Berlin brauche ich an diesem Sommertag neun Stunden.
In Thüringen habe ich die Nase voll. Ich biege auf der Höhe von Schleiz ab. Die Welt wird sofort anders. Hügelig, heimelig, entspannter, geradezu beruhigend. Ich lasse mich auf schmalen, kurvigen Landstraßen ein Stück weit treiben, bis ich an einem aufgelassenen Steinbruch anhalte. Absolute Ruhe. In der Tiefe des Steinbruchs hat sich ein azurblauer Baggersee aufgestaut. Ich schließe mein Mercedes-Veteran ab und laufe einfach los. Bergauf, bergab. Am Himmel kreist ein Mäusebussard. Irgendwo tuckert ein Traktor. Hinter einem Hügel ragt ein wuchtiger Kirchturm mit Haube hervor. Das wird mein Ziel. In der abendlichen Augusthitze erreiche ich rasch eine barocke Trutzburg, umfasst von einer vierseitigen Feldsteinmauer. Am Ortsschild steht: Göschitz.
Vor der Kirche ein einsamer Fußballplatz. Durch den Torbogen gelangt man zum Eingang. Die Tür steht weit offen. Irgendwo brummt ein Rasenmäher. Im Innern ein heller, großer Kirchenraum. Schlicht, spartanisch, protestantisch. Auf der Westempore eine stattliche Orgel. Plötzlich bellt ein Hund. Sekunden später stehe ich dem Mann am Rasenmäher gegenüber. Er stellt sich als Kirchenältester vor. Ein brummiger Anfang Sechziger. Zuerst misstrauisch, kommen wir ins Gespräch. Ja, das sei eine alte Kirche im Reußenland. Viel Arbeit, wenig los. Zum Gottesdienst alle sechs bis acht Wochen kommen noch fünf oder sechs Menschen. Er sei für alles zuständig. Vom Rasenmähen über Reparaturen bis zu den Gemeindefinanzen. Die Zuständigkeit wolle ihm Erfurt jetzt wegnehmen: „Sparen. Die wissen alles besser, haben aber keine Ahnung, was auf dem Dorf los ist.“
Der Mann taut auf. Seine Kinder seien alle in der Nähe geblieben. Das mache ihn stolz. Ansonsten? Die Gemeinde! „Wenn´s so weiter geht, ist bald Schluss!“ Ich frage nach Daniel Sturm, der auf einer Gedenktafel steht. „Kennen Sie den nicht? Ein bekannter Dichter, war hier Pfarrer.“ In der St. Jodocus-Kirche von Göschitz gab es sogar beheizte Kirchenbänke. „Wegen der Winterkälte. Die Heizung ist kaputt. Der Elektriker, der sie eingebaut hat, ist tot.“ Ich frage, ob ich die Orgel spielen darf. „Ja, aber wenn Sie falsch spielen, ist Schluss“, lächelt er.
Auf der Empore angelangt, werfe ich die elektrische zwei-manualige Dorforgel an, ziehe jede Menge Register. Wow! Ein kräftiger, vielstimmiger Klang. Das Beste: im tiefsten ostthüringischen Winkel stammt die Orgel aus dem Jahre 1911 von der Firma Walcker – aus meiner Geburtsstadt Ludwigsburg. Ich darf spielen, solange ich will. Beim Abschied ruft er mir zu: „Sie können hier Urlaub machen. Wir haben einen Gasthof mit Übernachtung.“

St. Jodocus-Kirche Göschitz. Hier ist viel Platz. Sonntags alle sechs bis acht Wochen kommen noch fünf, sechs Gottesdienstbesucher.
Wem die Stunde schlägt. Als ich zum Steinbruch zurückwandere, höre ich drei Glocken läuten. Die erste für jede Viertelstunde, die zweite für die volle. Die dritte setzt ein, weil es 18 Uhr wird. Das Tagewerk ist vollbracht. Das Bimmeln begleitet mich fast bis zum Baggersee. Dort am anderen Ufer vergnügt sich ein junges Pärchen, nackt wie Adam und Eva. Sie kichert fröhlich. Er wirft sein Moped an. Als ich wieder auf der Autobahn A9 Richtung Berlin bin: Aufatmen. Es ist deutlich weniger voll, keine Staus mehr. Auf einer der nächsten Autobahnbrücken taucht plötzlich ein blaues Fahnenmeer auf. Auf einem großen Transparent steht: „Scheiß ARD!“ Wenig später grüßt eine weitere AfD-Brücken-Demo. Ein Tag im Sommer 2025.
Liebe in Zeiten des Hasses? Dieser Song wird in Thüringen und Sachsen gerne gehört. Roland Kaiser: „Liebe kann uns retten“. Kaisermania im AfD-Land: