Karl Marx-Monument. Seit 1971 in Chemnitz. Er selbst war nie in der Stadt.

Chemnitz, mon amour?

Die Blätter fallen. Bald ist das europäische Kulturhauptstadtjahr Geschichte. Chemnitz feiert die letzten Herbsttage mit viel Kunst und Kultur. Dieses geschundene „sächsische Manchester“ mit mehr Schornsteinen als Kirchtürmen. Mehr Fabriken als Schlössern. Ein lebendiges Industriemuseum, mit Gießereien, Webmaschinen, Erz, Fahrzeugen, Fit, Karl Marx, Kraftclub und Kati Witt. Die Hoffnungen der einstigen Malocherstadt für die Zukunft: Start-ups, E-Mobilität, Wasserstoff-Energie und KI. Alles Visionen und Versprechen, zu sehen in der Ausstellung Tales of Transformation im Industriemuseum.

In Chemnitz ist einiges zu entdecken: von der großen Edvard Munch-Ausstellung über die hochgelobte Operninszenierung „Rummelplatz“ bis zum Projekt Offener Prozess, dem Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen. Eine Ausstellung mitten im Wahlkreis von Alexander Gauland, dem Gründervater der AfD. Ohne Kulturhauptstadtstatus wäre dieses Projekt undenkbar.

 

„Handwerkertöchter“. Selbst ist die Frau. Zu sehen in der Ausstellung Tales of Transformation im Industriemuseum Chemnitz.

 

Die meisten großen Events enden im November 2025. Was hat das Projekt nun gebracht? Es gebe ein neues Wir-Gefühl, sagen viele. Ja, die herbe Schönheit hat sich aufgehübscht. Ja, die großen Straßen und Plätze wirken abends weiter leer und verlassen, aber in vielen Industrieruinen blüht neues Leben auf. „C the Unseen“, das Motto der 250.000-Einwohner-Stadt, hat die Sachsen-Stadt ein Stück sichtbarer gemacht. Als lebenswerter Ort mit Ecken, Kanten und Brüchen. Chemnitz, das Aschenputtel, leuchtet in der Nacht. Jeden Abend schickt der 300 Meter-hohe Schornstein eines Heizkraftwerkes wie ein Leuchtturm seine Signale in die Ferne.

 

Chemnitz leuchtet: Der 302 Meter hohe Schornstein des Chemnitzer Heizkraftwerks leuchtet bereits seit 2017. Insgesamt 168 LED-Leuchten erhellen das vermutlich höchste Kunstwerk der Welt. Foto: Peter Zschage

 

Wer kann, hat jetzt eine letzte Gelegenheit, die Kulturhauptstadt Europas kennenzulernen. Jenseits aller üblichen Ost-Klischees bietet der Stadtteil Kaßberg hohe Lebensqualität mit Jugendstilvillen und Gründerzeitchic. Ein Geheimtipp ist das kleine Café Supp-Kultur. Freundliches Personal, nettes Ambiente, preisgünstiger Mittagstisch. Die Tagessuppe zu 4,20. Dafür gibt’s in Berlin-Mitte nicht einmal mehr den üblichen Latte Macchiato. Übrigens, eine hübsche Drei-Zimmer-Altbauwohnung wird für 670 Euro Warmmiete angeboten.

Auf nach Chemnitz? Tja. Wir alle wissen: Nichts ist stabiler als ein Vorurteil. Dagegen versuchen die Kulturleute seit Anfang des Jahres anzugehen: Bei der Ost Vision, eine Art Messe für Menschen unter 30 mit Musik, Workshops und Gesprächen wurden zunächst alle Klischees eingesammelt: „Alles Nazis dort, hässliche Stadt, kein Fortschritt, das Chemnitzer Lächeln gehe nur mit Mundwinkeln nach unten.“ Debattiert wurde die alte Ost-Frage: Bleiben oder gehen? Junge Menschen wollen Treffpunkte, die nicht früh schließen oder unbezahlbar sind. Jede/r – auch in Chemnitz – will mal an die Sonne. Beginnt nun etwas zu keimen? Immerhin wollen heute nicht mehr alle sofort nach der Schule weg.

 

Neues Leben in alten Gemäuern. Der Wirkbau mit seinem Club Atomino. Ein Hotspot in Chemnitz.

 

Das andere Chemnitz. Seit 25 Jahren trommelt der Kultclub Atomino mit Partys, Konzerten, Lesungen und Quizabenden gegen die Tristesse an. Mit „Absurdität, Übermut, Ekstase und Selbstironie“, so die Eigenwerbung und „dem schönsten Dachgarten der Welt“. Alles beheimatet in einem einst stolzen Textilmaschinenwerk, heute Wirkbau genannt, eines von 350 Industriedenkmalen der Stadt. In der Stadt ist tatsächlich viel Raum für Neues. Die Hauptattraktion jedoch bleibt ein großer, schwarzer, massiver Granitschädel, der „Nischl“. Ja, er ist noch da: Karl Marx. Bis 1990 trug die Stadt seinen Namen. Dabei war der Mann nie in Chemnitz. Wie so viele, die eher Klischees über die oft übersehene Stadt in Sachsen im Kopf haben. Noch ist das Kulturhauptstadtjahr nicht zu Ende.

 

So wirbt Chemnitz für die Kulturhauptstadt Europas 2025. Ziel: ein neues Wir-Gefühl!

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