Endstation Elbschlosskeller
In der Nacht ist der Mensch nicht gerne alleine! An der Macht allerdings ganz gerne. Was tun, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt? Netflix schauen, Dating-Portals checken oder Katzenvideos gucken? Es gibt Alternativen. Eine befindet sich in St. Pauli auf der Reeperbahn. Mitten im Kiez. Ein Laden mit viel Bier, Schnaps, Rauch, Paradiesvögeln, Gestrandeten und langer Tradition. Hier trifft sich rund um die Uhr das Bodenpersonal der Abteilung Lonely Hearts. 24/7 geöffnet, 365 Tage im Jahr, seit 1952. „Deutschlands immer noch härteste und sozialste Kneipe“, behauptet Wirt Daniel Schmidt, bald 41. Ein eloquenter, bunt tätowierter Kneipenchef eines Familienbetriebes der besonderen Art. Willkommen im Elbschlosskeller!
Daniel Schmidt ist ein Kraftpaket, ein Mann mit klarer Ansage, dazu ein perfekter Entertainer, RTL 2-gestählt. Er hat ein ausgesprochen sensibles Radar für Menschen, Situationen, Hoffnungen, Ängste und Sorgen. Keine Frage: Am Kneipentresen kommt nach dem fünften Pils die Wahrheit auf den Tisch, oder was man dafür hält. Jedes Leben ist wie ein Roman. In den durchzechten Nächten verbreitet sich das berühmt-berüchtigte Elbschlosskeller-Aroma: „Eine Mischung aus Alkohol, Rauch, Schweiß und einfach vielen Menschen und gelebtem Leben.“ So steht es im neuen Buch von Daniel Schmidt. „Löwengrube. Durch den Vorhof zur Hölle zu einem Leben in Liebe.“ Auf dem Buchcover ist ein kleiner Zusatz vermerkt: „Kein Roman“.
Also ein Sachbuch? Von wegen. Daniel in der Löwengrube schildert höchst unterhaltsam sein abenteuerliches St-Pauli-Leben. Angeblich hinterm Tresen im Elbschlosskeller gezeugt, entwickelt er eine rasante Tour durch „Deutschlands sündigste Meile“. Es ist die filmreife Vita vom neunjährigen Bettnässer über den Hooligan zum achtzehnjährigen Jungkneipenwirt, der sich nach oben zapft. Nichts lässt er anbrennen. Sex, Drugs and Rock ‘n Roll. Es geht um Elbschlosskeller-Schicksale wie Miss Piggy. Sie lässt ihr frisch entbundenes Baby draußen alleine im Kinderwagen, weil sie lieber sabbeln will und Durst hat. Oder Thomas alias Tamara. Er kündigt sein Leben als Unternehmer mit Familie auf. Aus dem Porschefahrer wird Tamara, „die immer aussah als käme sie frisch vom Friseur“. Er stirbt an Aids.
Der Tod ist Stammgast im Elbschlosskeller. „88 Tote“ zählt Daniel in den letzten fünf Jahren. Zu viel Alk, Drogen, Frust, Einsamkeit und Selbst-Zerstörungswut. Als Urgestein Lars, der 150-Kilo-Mann und Türsteher von rausgeworfenen Gästen mit einem Metallmülleimer erschlagen wird, bleibt selbst Daniel Schmidt einmal kurz die Sprache weg. Sein Wendung aus dem „Vorhof zur Hölle“ zu Jesus ist sicher überraschend und wirft neue Fragen auf. Ist das ernst gemeint? Sichtbar hat sich Daniel Jesus is King auf seinen Nacken tätowieren lassen.
Kneipier Schmidt gründet und organisiert auf St. Pauli seinen Hilfsverein „Wer, wenn nicht wir“. Dort hilft er Obdachlosen, Verzweifelten und Gestrandeten. Sein Traum für die Zukunft: Ein Reste- oder Gnadenhof auf dem platten Land. Ein Asyl für gequälte Menschen und Tiere. Das ist seine Vision, dank Jesus. Daniel steht weiter am Tresen, allerdings deutlich weniger als in seiner Sturm- und Drangzeit. Etwas anderes macht er mittlerweile täglich: Beten. Ja, richtig: Beten! Wer glaubt, wird selig. Nachzulesen in seiner Kellergeschichte, die sich wie ein Thriller liest, ständig auf hoher See zwischen Drama, Drogen, Herzschmerz, Freundschaft und Tragödie, genau wie seine Gäste in den langen Nächten. Daniel in der Löwengrube wird nicht müde zu wiederholen, alles sei so passiert in seinen berührenden Geschichten aus dem Keller der Gesellschaft. Alles, bloß kein Roman. Echt wahr!
Daniel Schmidt. Löwengrube. Kösel, 2025.