Aleksandr Kuznetsov. Er spielt den jungen Staatsanwalt Kornew.

„Kein Mensch, kein Problem!“

Premiere von „Zwei Staatsanwälte“ im vornehmen Cinema Paris am Kurfürstendamm. „Das ist unser Weihnachtsfilm“, witzelt der junge Hauptdarsteller Aleksandr Kuznetsov. Er verkörpert den frisch gebackenen sowjetischen Regionalstaatsanwalt Kornew. Dem jungen Absolventen wird ein mit Blut beschriebenes Stück Pappe zugespielt. Darauf bittet ein Gefangener um Untersuchung seines Falls. Als der Staatsanwalt nach langem Ringen den Häftling aufsuchen kann, trifft er in einer stinkenden Einzelzelle den schwer misshandelten Jura-Dozenten Stepjanek. Er war sein Vorbild am Institut.  Es ist das Jahr 1937. Stalin sichert seine Herrschaft durch beispiellose Säuberungsaktionen. Etwa 800.000 Menschen werden in der Zeit des Großen Terrors erschossen.

Der renommierte Regisseur Sergei Loznitsa inszeniert das Kerker-System des Stalinismus als kafkaeskes Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gibt. Über den internierten, alten Genossen, vom NKWD-Geheimdienst als „Feind des Volkes“ beschuldigt, witzeln die Gefängnisaufseher: „Vor der Revolution hat er im Gefängnis gewartet. Nach der Revolution hat das Gefängnis auf ihn gewartet.“ Der Film steigt hinab in die geheimen Maschinenräume des Stalin-Systems. „Wo gehobelt wird, fallen Späne“, verkündete Josef Wissarionowitsch Stalin und: „Kein Mensch, kein Problem!“

 

 

Das Absurde, ja das Unfassbare: Reihenweise werden Kämpfer der ersten Stunde, verdiente Genossen und Weggefährten Lenins unter dem Vorwand der Konterrevolution eingesperrt und zum Geständnis gezwungen. „Verbannt ohne Recht auf Korrespondenz“, heißt es in den Akten. Eine Chiffre für „erschossen“. Wer „verdächtig“ ist, wird weggeräumt. „War freies Denken in Russland schon immer viel gefährlicher gewesen als Diebstahl, so war es jetzt beinah selbstmörderisch.“ Dieses Zitat verdanken wir dem Gulag-Überlebenden Georgi Demidow. Ein Physiker, der 1937 in Charkiw wegen einer kritischen Wandzeitung zu vierzehn Jahren Lagerhaft in Sibirien verurteilt wurde. Demidow schrieb alles auf. Seine Romane bleiben unveröffentlicht. Tragisch: Drei Jahre nach seinem Tod 1987 gibt Gorbatschow die konfiszierten Texte im Rahmen der Perestroika frei.

Der neue Film folgt konsequent der erschütternden Romanvorlage. Ein Höhepunkt ist das Treffen in der Kerkerzelle. Der misstrauische und vom Tod gezeichnete Alte sagt dem blutjungen Juristen: „Hör zu, Junge. Ich mache mir keine Sorgen um mich, ich bin sowieso tot. Für unsere revolutionäre Sache zerreisst´s mir die Seele. Wenn du ein wirklich ein echter Bolschewik bist, kein Feigling und ein ehrlicher sowjetischer Jurist, fahr heut nach Moskau. Verschaff dir eine Audienz bei Stalin.“

 

„Der Kapitän der Länder der Sowjets steuert uns von Sieg zu Sieg“ Propagandaplakat von 1933. © ullstein.

 

Regionalstaatsanwalt Michail Alexejewitsch Kornew schafft es mit „knabenhafter Hartnäckigkeit“ bis zum Generalstaatsanwalt in Moskau. Tatsächlich wird er vorgelassen. Der Oberste Hüter der sowjetischen Rechtsprechung hört sich den Bericht des Provinzstaatsanwalts an. Er werde sich kümmern, versichert er. Das Schicksal nimmt seinen Lauf…

War der wahrheitssuchende Staatsanwalt ein blauäugiger Naivling? Eine Art Don Quichotte? Der ukrainische Regisseur Loznitsa verneint diese Frage vehement. Nein, der junge Mann sei ein Idealist gewesen. Ohne Menschen wie ihn würden wir nichts über das wahre Gesicht der „sowjetischen Gerechtigkeit“ erfahren. Unter Stalin, so Losnitza, seien im Großen Terror täglich dreitausend Menschen erschossen worden. Heute würden jeden Tag tausend Menschen in den Schützengräben im Auftrag Moskaus verbluten.

 

Georgi Demidow. (1908-1987) Physiker. Gulag-Häftling. Autor. Die Veröffentlichung seiner Romane erlebte er nicht mehr.

 

Film und Buch berichten nüchtern und ohne falsches Pathos aus dem Hinterhof des Menschheitsversprechens Sozialismus. Bedrückend aktuell und zugegeben, es ist harte Kost. Allerdings mit hohem Erkenntnisgewinn. Das Buch „Zwei Staatsanwälte“ zählt laut Zeit zu den hundert wichtigsten Büchern des Jahres 2025. Der neue Film, uraufgeführt in Cannes, hat mindestens ähnliches Potenzial.

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