Die Löwin von Neukölln
Berlin-Neukölln. Rollbergviertel. Betonburgen, Tiefgaragen, Müllcontainer. Dazwischen ein bisschen Grün. Ein sogenannter sozialer Brennpunkt. Für Güner Balci Kindheit, Jugend und ein Stück Heimat: „Für uns Kinder war die Großsiedlung ein Raum, in dem jeder sein konnte, wie er war. Wir waren die Herrscher über Treppenaufgänge, Kellerräume und Garagen. Wir, das waren hunderte Kinder, deren Eltern aus unterschiedlichen Ländern eingewandert oder Deutsche ohne Migrationsgeschichte waren.“ Alle Familien hätten viele Kinder gehabt. „Man hatte sein Auskommen, sofern die Eltern arbeiten gingen. Nicht alle taten das – die ersten Anzeichen der späteren fatalen Entwicklung.“
Eine Kindheit ohne Klavierunterricht, Ballett, Helikoptereltern und Nachhilfestunden. „Der Rollbergkiez war meine Lebensschule“, schreibt die 50-jährige Autorin und Integrationsbeauftragte von Neukölln in ihrem neuen Buch „Heimatland“. „Wir kannten keine Nanny und keine durchgeplanten und betreuten Kinder Freizeiten. Wir hatten das Columbia-Bad. Aber nicht alle hatten Geld für den Eintritt. Da half alles nichts: Man musste über den mit Stacheldraht bewehrten Zaun klettern. Einmal trug mir das eine klaffende Fleischwunde am Oberschenkel ein.“
Die waschechte Neuköllnerin Güner Balci ist ein Gastarbeiterkind. Ihre Eltern Mahmut und Fatma waren einfache, herzenskluge Bergbauern. Aleviten aus Ost-Anatolien. Ihr Glück suchten sie in Almanya. Berlin wird ihre neue, zweite Heimat. Mutter Balci schrubbt vierzig Jahre in Krankenhäusern, damit es ihren vier Kindern einmal besser geht. Die junge Güner genießt viele Freiheiten und lernt rasch die Gesetze der Straße kennen. Abenteuer, Gemeinschaft, Langeweile, erste Liebe, Mädchenladen MaDonna, aber auch Klauen von Nike-Sportschuhen oder Gegnern „die Nase putzen“: „Nach Myriaden blauer Flecken und einigen ausgeschlagenen Zähnen lernte ich, mich wehrhafter zu zeigen. Es kann nicht immer falsch sein, dem Richtigen eins auf die Fresse zu geben.“
Anfang der achtziger Jahre, so Güner Balci, ändert sich vieles im Kiez. Arabische Familien ziehen ins Rollbergviertel. Es gibt neue Abschottungen und Kontrolle durch Sittenwächter. Die Macht der Imame zeigt Folgen: Geschlechterapartheid und Gewalt gegen „Ungläubige“. Was besonders auffällt: Mädchen verschwinden von der Straße. Sie werden zu „Schattenwesen“. Für sie heißt es plötzlich: „Freunde, Freizeit, Freiheit waren jetzt Haram, verboten.“

Der Himmel über Neukölln. Blick vom Szenetreff Klunkerkranich über die Dächer der Stadt. Auch hier ist Neukölln anders – als viele Klischees.
Güner Balci studiert. Sie lebt ihren Traum als junge, selbstbewusste Migrantin. Ihre erste große Liebe ist Tschabo, ein Sinto und „der weltbeste Rhythmusgitarrist“. Beim Prince-Konzert in der Deutschlandhalle erklimmt Güner die Bühne, um mit ihrem Idol zu tanzen. Sie wird Journalistin, arbeitet unter anderem für das ZDF-Magazin Frontal 21. Ihre Beiträge über Islamismus, Migrantenalltag und Parallelgesellschaften sind gründlich recherchiert, aber äußerst unbequem. Islamisten und Konservative laufen Sturm. Unermüdlich warnt Balci auch in ihren Büchern (Arabboy, ArabQueen) vor einem weit verbreiteten Kulturrelativismus. („Die sind eben anders“). Gleiche Maßstäbe für alle, egal ob Migrationshintergrund oder nicht, das ist der Kern ihrer Botschaft.
Als sie 2020 Integrationsbeauftragte von Neukölln werden soll, gilt sie für Teile der Linken und Grünen als „ungeeignet“. Güner Balci polarisiert. Bei ihrem Namen bekommen viele Bedenkenträger einen dicken Hals. Sie sei eine „Erfolgsrassistin“, heißt es. „Wallah, die spinnt!“ Doch die Shitstorms feuern die streitbare Löwin von Neukölln eher noch an. Sie betont: „Wenn bei vielen Dingen, die ich in der Öffentlichkeit sage, Neonazis, Rechtsextreme, Islamisten, türkische Faschisten und bestimmte extremistische linke Gruppen Puls kriegen, dann habe ich alles richtig gemacht.“
Ihr Buch „Heimatland“ ist eine einzige große Liebeserklärung. An ihren Kiez in Neukölln, an Berlin und – ja – an Deutschland. In der heiß diskutierten Migrationsfrage ist Balci überzeugt: „Wir hätten heute vielleicht keine AfD, wenn wir schon seit Jahrzehnten mehr Mut zur Wahrheit und Verantwortung gehabt hätten.“ Mit ihrer Sicht wird sie sicher wieder anecken. Aber Kämpfen ist Güner Balci seit Rollberg-Zeiten gewohnt. Was hat sie von ihrer alevitischen Mutter gelernt: Nie unterkriegen lassen, nie!
Güner Yasemin Balci. Heimatland. Berlin Verlag. 2025
Transparenzhinweis: In den 10er-Jahren haben Güner Balci und ich mehrfach für das Kulturmagazin aspekte zusammengearbeitet.