Wiedersehen in Walhalla?
Wir sind in der Teestube von Wangerooge verabredet. Friedrich-Wilhelm Petrus kommt mit dem Rad. Pünktlich wie ein Schweizer Uhrmacher. Das Gehen fällt dem stattlichen Mann schwer. Er setzt sich an diesem milden Septembernachmittag zu uns ins Freie. Petrus geht stramm auf die Neunzig zu. Der Mann ist auf der autofreien Nordseeinsel Watt- und Inselführer, Zeitzeuge und eine Institution aus Schrot und Korn. „Moin! Was wollen Sie nun genau wissen?“ Als wir uns über seine Geburt 1936, die Schönheit seiner kleinen Insel, die Gezeiten, kurzum über das Auf und Ab im Leben zu unterhalten beginnen, ruft Petrus dem Wirt zu: „Ingo, die Bunkertür steht offen. Sorg mal dafür, dass die wieder geschlossen wird!“

Lazarettbunker auf Wangerooge. Die Tür stand offen.
Bunker? Davon gab es viele auf Wangerooge. Über 100 auf der heutigen Ferieninsel. Dazu „83 Artilleriegeschütze“ und zehntausend Marinesoldaten. „Festung Wangerooge! Schon gehört? Wir waren bis auf die Zähne bewaffnet.“ So musste das Schicksal der Insel im II. Weltkrieg seinen Lauf nehmen. Die geografische Lage vor dem Kriegshafen Wilhelmshaven besiegelte keine zwei Wochen vor Kriegsende das Schicksal des Inselchen. Am 28. April 1945 gegen 17 Uhr nachmittags attackierten alliierte Bombergeschwader Wangerooge und legten die Insel in Schutt und Asche. 311 Menschen kamen ums Leben. Soldaten, Zivilisten, Zwangsarbeiter, aber auch Besatzungsmitglieder der Bomberstaffeln. Über zweihundert Gebäude wurden völlig zerstört, darunter die Katholische Kirche am Bahnhof.

Friedrich-Wilhelm Petrus. Jahrgang 1936. Inselführer. Zeitzeuge. Einer, der etwas zu erzählen hat,
Petrus überlebte mit seinen acht Jahren das „Inferno“. Im Garten der Teestube berichtet er ruhig und überlegt von den fünfzehn Minuten, die alles änderten. Er erzählt, als wäre es gestern gewesen: „Es kamen schnelle Flugzeuge. Mosquitos. Man hörte ein unheimliches Sirren in der Luft. Es wurde von Minute zu Minute stärker. Einer hat aufgeschrien. Da kamen 400 „Fliegende Festungen“. Wir (Kinder) sind in alle Himmelsrichtungen weggelaufen. Mein Vater war in der Spee-Batterie. Ich bin am Deichfuß entlang gerast. In der Spee-Batterie war keiner mehr. Diesen Weg werde ich nie vergessen. Am Ortseingang wohnte der Polizist Klähn. Friedrich-August-Straße. Sein Haus ist in die Luft geflogen. Die Druckwelle warf mich fast um. Vor dem Haus lagen zwei tote Frauen und der tote Hund. Die Familie des Polizisten. Das Hotel Albers ist in die Luft geflogen. Ich habe mit meinen Kinderfäusten gegen die Bunkertür getrommelt. Es wurde aufgemacht. Dort waren die Offiziersfrauen. Ich war in Sicherheit. Meine Mutter hatte mich schon abgeschrieben.“
Schutzengel? „Ich habe meine Zweifel. „Wir nennen es einfach mal Glück. Oder Schicksal!“ Vater Wilhelm war Kapitän und Kommandant der Küstenbatterie, ein hohes Tier auf der Insel. Für ihn brach eine Welt zusammen, vor allem vierzehn Tage später, als das Dritte Reich kapitulierte. „Mein Vater musste ins Lazarett, dem heutigen Haus Meeresstern. Schwester Anselm hat dort gesagt: Gott hat den Tyrannen gestürzt! Das ist ihm durch Mark und Pfennig gegangen.“ Petrus setzt immer wieder Pausen. „Als der Krieg zu Ende war, dachte ich nur, irgendwann müssen sie meinen Vater abholen. So kam es. Zwei kanadische Offiziere stehen eines Tages vor der Tür. Der eine war Dolmetscher, der andere Offiziere: Sie sagen: Sie sind verhaftet! Mein Vater ist in das Schlafzimmer, hat sich seine beste Uniform angezogen und ist mitgegangen. Wir haben nichts mehr von ihm gehört.“

Festung Wangerooge. In einem der Bunker.
Der Vater kommt später als ein völlig anderer zurück. Er sei ein „Fremder“ geworden. Gebrochen. Er beginnt zu trinken. Sohn Friedrich-Wilhelm flüchtet 1952 nach Stuttgart. Dort wird der Ostfriese ein viel gefragter Elefantenpfleger, sein jüngerer Bruder kümmert sich um Pinguine. Eines Tages erfährt er, dass Vater Wilhelm an der zentralen Kreuzung auf Wangerooge brüllt: „Juda verrecke!“ Er schwört Besserung. Sohn Petrus: „Er hat es natürlich wieder getan. Er ist bis zu seinem Ende 1971 ein Nazi geblieben.“ Bei der Trauerfeier auf der Insel tauchen Gestalten auf, die nicht ganz „koscher“ sind. „Aus der Gruppe geht jemand ans offene Grab und macht den Führergruß und sagt: ‚Wilhelm, wir sehen uns in Walhalla wieder.‘

Das Kreuz in den Dünen erinnert an die Toten des Infernos vom 28. April 1945.
So war das. Heute versucht Sohn Friedrich-Wilhelm bei seinen Inselführungen unermüdlich vor den Schrecken des Krieges zu warnen. Mit Erfolg? – „Tja.“ Petrus denkt lange nach. „„Das Interesse an der Vergangenheit ist nicht mehr sehr groß. Vor zwei Jahren sind wir zum Inselgymnasium gegangen. Wir fragten den Direktor, ob wir zum Jahrestag 25. April als Zeitzeugen kommen sollen. Das hat er rundweg abgelehnt. Das wird nicht mehr gefragt.“ Wiederholt sich Geschichte? Der alte Insulaner antwortet knapp: „Ich sage es ganz lapidar: Die Menschen können nicht ohne Kriege leben. Es wird Krieg geben. Immer und immer wieder.“
Plötzlich beginnen die Glocken der Inselkirche zu läuten. Wie jeden Tag kurz nach 17 Uhr, um an das Inferno vom 25. April 1945 zu erinnern. „Heute weiß niemand mehr, warum“, sagt der Inselführer. Zweimal die Woche führt Friedrich-Wilhelm Petrus Menschen über seine Insel. Erzählt von Flut und Ebbe. Von Vögeln und Watt. Von Glanz und Elend. Licht und Schatten auf dieser kleinen, so friedlichen Ferieninsel.

Wangerooge. Eine friedliche Ferieninsel, heute. Früher war die Insel „kriegstüchtig“. Sie wurde am 7. April 1945 zur Festung erklärt. Am 25. April 1945 wurde das Inseldorf Wangerooge völlig zerstört. Es war einer der letzten Bombenangriffe des II. Weltkrieges in Europa.