Der alte Mann und die neue Literatur
Es ist kalt. Die Straßen sind voller Schnee, Eis und Matsch. Kein Mensch treibt sich freiwillig herum. Besuch bei einem alten Herrn. Ein Büchermensch alten Schlages, der sein Leben lang an die Wirkung des Wortes geglaubt hat. Sein Name: Achim Roscher. Gründungsmitglied eines kleinen Literaturmagazins über das der Mantel des Vergessens geworfen wurde. Das ist schade. Denn die „Neue Deutsche Literatur“ – abgekürzt NDL – hat viel zu erzählen.
Es wird in seiner kleinen Neubauwohnung am Rande Berlins ein lehrreicher Winternachmittag. Der gebürtige Sachse ist ein kluger Erzähler, voller Anekdoten und Geschichten. Ein lebendes Lexikon. Der 83-jährige berichtet aus über fünf Jahrzehnten deutsch-deutscher Literaturgeschichte.
Es geht um die ganz Großen, die Gescheiterten und die schönen Beine der Sekretärin, die den jungen Marcel Reich-Ranicki fast um den Verstand gebracht hätte. Reich-Ranicki lobte Ende der fünfziger Jahre die „Formgestaltung der modernen Möbel“, die ihm in der engen Redaktionsstube unterm Dach der Französischen Straße in Ost-Berlin ungewöhnlich reizvolle Einblicke verschaffte.
In der NDL schrieben ein knappes halbes Jahrhundert lang Autoren von Rang und Namen. Die ganz Großen und die Unbekannten. Nobelpreisträger und Debütanten. Einzige Bedingung: Die Texte mussten neu sein. Unveröffentlichte Prosa, Essays und Gedichte erblickten in der Monatszeitschrift das Licht der Welt. „Kein Heft, worin nicht irgend etwas Lehrreiches, Reizvolles, zum Nachdenken Anregendes sich mir dargeboten hätte.“ So wohlwollend urteilte Thomas Mann im April 1955.
Achim Roscher berichtet von aufgeregten Debatten, Eitelkeit und zäher Zensur. Natürlich habe die Literatur in der DDR stets unter staatlicher Gängelung gelitten. Aber die Freiheit des eigenen Gedankens habe sich immer wieder „zwischen den Zeilen“ durchsetzen können. Im »Realsozialismus« wie später auch im »Realkapitalismus« sei viel abverlangt worden. Ja, es waren enge Grenzen, gibt er zu, an manchen scheiterten Autoren und Redaktion. Stets mit besten Absichten, betont er.
Prominente Autoren veröffentlichten ausgesprochen gerne. Bert Brecht, Christa Wolf oder Günter Grass und Martin Walser. So entwickelte sich das Heft zu einem stillen aber genauen Kompass deutscher Trennungs- und Vereinigungsgeschichten. Nach 554 Ausgaben wurde das Blatt Anfang 2004 eingestellt. Aus finanziellen Gründen. Die Auflage war dramatisch gesunken. Achim Roscher hat dieses vergessene Stück neuer deutscher Literatur akribisch und kenntnisreich wieder wachgeküsst.
In einem Nachruf hieß es:
„Die von der Wand genommene Uhr
hinterläßt
im Raum eine Lücke
obwohl
die Zeit als solche geht weiter.“
Irgendwann sitzen wir in seinem Arbeitszimmer in völliger Dunkelheit. Ich sehe Achim Roscher nicht mehr. Er erscheint mir nur noch als schemenhafte Gestalt wie aus einer anderen Welt. Roscher schaltet kein Licht ein, redet einfach weiter. Aber kommt es am Ende nicht doch viel mehr aufs Zuhören an?
Hier das Buch: Achim Roscher. In den Heften und zwischen den Zeilen. Edition Schwarzdruck 2015.