Im Haus des Volkes

In diesen Tagen holt zahlreiche Bundestagsabgeordnete eine alte Affäre um teure Füller ein. Wie „Bild“ jüngst herausfand, orderten vor einigen Jahren Mitglieder aller Fraktionen wertvolle Schreibgeräte. Selbst Abgeordnete der Linken wurden mit Luxusfüllern der Marke Montblanc im Wert von 2.900 Euro versorgt – umsonst. Ob mit solch edler Tinte die Abgeordneten-Qualität gesteigert werden konnte, bleibt das Geheimnis der Volksvertreter.

Was aber jenseits von  aufgebauschten Aufregern die Abgeordneten wirklich leisten, hat Roger Willemsen in einem beispiellosen Selbstversuch erkundet. Ein Jahr lang besuchte der viel zu früh verstorbene Publizist alle Plenarsitzungen im Reichstag. Er saß auf der Besuchertribüne, staunte, wunderte, ärgerte und langweilte sich. Manchmal war er der Einzige, der den Hervorbringungen der Parlamentarier noch folgte. Abgesehen von den Stenografen, die jede Stunde ausgetauscht werden. Sein Tagebuch „Hohes Haus – ein Jahr im Parlament“ ist von zeitloser Aktualität. Wie alle guten Bücher.

 

Rund 13.000 Reden werden in einer Legislaturperiode im Bundestag gehalten. Roger Willemsen war dabei. Er wollte wissen, ob das Herz der Demokratie noch richtig tickt. Und wenn ja, wie? Sein Befund: Starke Rhythmusstörungen. Ein Herzschrittmacher könnte nicht schaden. Willemsen notiert: „In der Politik hat sich irgendwann bei den meisten Fragen ein Vorrang des Strategischen durchgesetzt, in dessen Schatten sich alles andere bewegt. Man siegt nicht durch Einfühlung, sondern durch Kalkül und Technik.“

Was heißt das für ihn? „Falsch also die Vorstellung, ein Politiker verließe am Ende das Hohe Haus und habe primär etwas für die Menschen erreicht oder verloren. Es gibt sicher die Überzeugten in allen Parteien, auf allen Feldern, auf den vorderen wie auf den hinteren Bänken. Es gibt jene, die es gut meinen und die falschen Mittel haben, jene, die dauernd Brücken suchen zum Witz, zur Beleidigung, zum Schulterschluss. Es gibt die von der eigenen Fraktion Marginalisierten, die Übersehenen und Übergangenen, die Geparkten und jene, die gerade kapitulieren und erlöschen.“

 

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Roger Willemsen. (15. August 1955 – 7. Februar 2016)

Willemsen vermisste Visionen und Ideen. Vor allem aber eines: Haltung. Beispiel Bankenkrise und das Verhalten des Bundestages. „Es muss auch im Parlament erlaubt sein die Idee eines Landes aufrechtzuerhalten, in dem sich das Gemeinwohl nicht über das Wohl der Banken definiert. Die Debatte, die jetzt geführt werden müsste, wird aus vielen Gründen nicht mehr geführt. Das System begründet sich nicht mehr. Seine Krise, die auch eine Krise seiner Werte ist, wurde nicht von der Kritik oder vom Protest ausgelöst sondern von immanenten Prozessen und dem folgenden Kollaps.“

Vor genau einem Jahr ereilte Roger Willemsen der Befund, dass sich der Krebs eingenistet hat. Er zog sich zurück, ertrug die verbleibende Zeit mit Tapferkeit. Am 7. Februar 2016 starb der geschätzte Kollege in der Nähe von Hamburg. Was bleibt, sind seine Bücher. Es lohnt sich in  „Hohes Haus“ reinzuschauen.

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