Da wächst Gras drüber
Hof und Haus, Stall und Scheune wurden gesprengt oder abgetragen. Abgeräumt und eingeebnet. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Über fünfzig Siedlungen ereilte dieses Schicksal. Mitten in Deutschland. Das Schicksal dieser Dörfer? Sie standen dem Kalten Krieg im Wege. Die Grenztruppen brauchten freies Schussfeld. Die Kommandos wüteten ab den frühen fünfziger bis in die späten achtziger Jahre. So verschwanden jahrhundertealte menschliche Ansiedlungen für immer.
Wüstungen heißt ein ambitioniertes Ausstellungs- und Dokumentationsprojekt der beiden Potsdamer Fotografen Anne Heinlein (Jahrgang 1977) und Göran Gnaudschun (1971). Sie reisten viele Jahre buchstäblich ans Ende der Welt. Die Fotografen suchten und fanden Spuren einer untergegangenen Welt. Grenzdörfer, die verschwinden mussten, um „Angriffe auf die Staatsgrenze“ verhindern zu können. Störfaktoren und Verstecke mussten beseitigt, „Republikflucht“ unmöglich gemacht werden. Doch selbst das Planieren zahlreicher Dörfer im Grenzgebiet konnte die Fluchtwelle nie wirklich stoppen. In Nordwest-Mecklenburg stiegen 1988, im Jahr vor dem Mauerfall, die Fluchtversuche sprunghaft an. Um 180 Prozent wie ein Bericht der Grenztruppen beunruhigt festhält.
Jahrelang blutete die Republik aus. An ihren Rändern, im Grenzgebiet zum kapitalistischen Westen, verschwand still, heimlich und leise eine Ortschaft nach der anderen von der Landkarte. So wurden systematisch gewüstet: Bardowiek (Selmsdorf), Lankow (bei Mustin), Lenschow und Wahlstorf (Lüdersdorf), Neuhof (Gadebusch), Neu Zweedorf, Wendisch Lieps Billmuthausen, Erlebach, Leitenhausen, Dornholz, Groß Grabenstedt, Jahrsau, Stresow, Kaulsroth, Liebau, Korberoth, Schmerbach, Ruppers, Stresow, Taubenthal bei Falken, Vorwerk Karneberg, Gut Greifenstein, Rittergut Keudelstein, Stöckigt, Troschenreuth, Christiansgrün bei Tettau und weitere Dörfer.
Orte, die keiner mehr kennt. Es ist das Verdienst der Fotografen Heinlein und Gnaudschun sie wieder ins Gedächtnis gerufen zu haben. Collageartig halten die beiden Potsdamer untergegangenes Dorfleben fest. Alte Aufnahmen zeigen unbeschwerten Ringelreihen-Tanz oder Hofschlachtung.
Die heutigen Bilder der geschleiften Orte hingegen offenbaren verwunschene Naturparadiese. Erst mit dem Wissen um ihre Geschichte erhalten sie ihre eigentliche Bedeutung wieder. Wüstungen hatte es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben. Im Dreißigjährigen Krieg waren ganze Regionen verwüstet worden. In allen Zeiten mussten ganze Dörfer Truppenübungsplätzen oder Braunkohlerevieren weichen.
An der einstigen innerdeutschen Grenze verloren Tausende Menschen ihre Heimat. Dörfer und Siedlungen wurden im Namen einer Fortschrittsidee geopfert. Ironie der Geschichte: Der Schutzwall, der den Sozialismus vor dem Kapitalismus bewahren sollte, wurde nach seiner Überwindung binnen kürzester Zeit selbst zur Wüstung. Nun überzieht ein grünes Band die Wunde des Kalten Krieges. Auch wenn Orte wie Groß Grabenstedt oder Schmerbach mit ihrem Untergang bezahlen mussten.
„Wüstungen – Geschleifte Orte an der innerdeutschen Grenze“. Haus am Kleistpark, Berlin. Bis 5. März 2017. Eine sehenswerte Ausstellung.