Mein Freund der Baum
Der kräftige Ahorn-Baum vor unserem Haus wankte, dann krachte er auf das Auto unserer Nachbarin. Ihr kleiner Sportflitzer war platt. Sie hatte Glück. Zwanzig Minuten zuvor war sie ausgestiegen. Das war im letzten Herbst als der Orkan Xavier über Berlin hinwegfegte. Die Feuerwehr zerlegte den Baum. Zurück blieb ein hässlicher Stumpf, aufgerissenes Pflaster und eine Lücke. Diese wird wohl lange bleiben.
Seit dem Orkan passierte neun Monate – eine ganze Schwangerschaft lang – nichts mehr. Außer einer rot-weißen Flatterleine, die notdürftig gespannt wurde. Der Berliner Amtsschimmel ruhte. Ende Juni 2018 ein kleines Wunder. Zwei freundliche Mitarbeiter einer Gartenbaufirma gruben das Wurzelwerk aus und transportierten den traurigen Rest ab. Auf unsere Frage, ob nun ein neuer Baum gepflanzt werde, lächelten sie nur. Sie sprachen kein Deutsch.
Längst hatten Anwohner und Nachbarn überlegt, was zu tun sei. In Berlin werden mehr Bäume gefällt als gepflanzt. Über zehntausend Straßenbäume fehlen. Die Verwaltung ist überfordert und unterbesetzt. Unser Ahornbaum war stolze zwanzig Meter hoch, spendete im Sommer Schatten und dämpfte den Großstadtlärm. Der Ahorn, lese ich, hatte schon immer eine große Bedeutung. Die Ruhe, die er ausstrahlt, soll dazu dienen, böse Geister fernzuhalten. Daher ist er noch heute in vielen Gärten zum Schutz vor Eindringlingen zu finden. Zudem ist der Ahorn sehr genügsam, kann sich an widrige Verhältnisse gut anpassen.
Der robuste Ahorn ist eine optimale Berliner Pflanze. Der ideale Straßenbaum für aufgeheizte Großstädte. Ein neuer „kompletter“ Jungbaum kostet um die tausend Euro. Er kann bis zu fünfhundert Jahre alt werden. Also reifte der Entschluss, den Baum einfach zu spenden. Nachdem Bürger dazu aufgefordert wurden, aktiv zu werden, meldeten wir uns bei der Hotline. Doch die Nummern beim Grünflächenamt führten ins Nichts. Sie sind abgeschaltet.
Wer in Berlin etwas Gutes tun will, darf sich von solchen kleinen Hindernissen nicht aufhalten lassen. Nach vielfachen Versuchen erreichten wir auf einer internen Nummer eine Mitarbeiterin des zuständigen Amtes. „Baumspenden geht nicht mehr“, erklärte sie genervt. „Der Stadtrat hat verfügt, bis Ende 2019 sind Baumpflanzungen nicht mehr möglich. Kein Personal.“ Ende der Durchsage.
Was tun? Der Baum fehlt. Der Wille zur Selbsthilfe ist vorhanden. Also Selbstpflanzen? Das geht nicht im preußischen Berlin. Laut Vorschriften heißt es: „Eine komplette Jungbaumpflanzung in Maßen 18-20 cm Stammumfang, 3mal verpflanzt mit Ballen“ plus „Einbau der Baumsicherung, Dreierbock mit Verlattung, Urinschutz und Stammschutz“ auf öffentlichem Straßenland geht nur auf Veranlassung des Grünflächen- und Tiefbauamtes.
Ein Quadratmeter Berliner Baumerwartungsfläche hofft nun auf 2020. Das Jahr, in dem der Flughafen BER an den Start gehen soll und unsere Lücke möglicherweise mit neuem Grün versehen wird. Oder bleibt nur noch das Warten auf ein Wunder? Selbstbestäubung durch die Natur? Wäre möglich aber nicht zulässig. Dann wäre der neue Baum ein Fall für das Ordnungsamt. Das funktioniert noch und verfügt über genügend Personal. Unsere Straße befindet sich in einer gebührenpflichtigen Parkzone. Szenen aus dem Alltag einer Stadt, deren Verwaltung dazu auffordert mit Sandalen in die Arktis zu ziehen. Wer sich kalte Füße holt, ist selber schuld.