Villa mit Wartezeiten
„Das nächste halbe Jahr sind wir komplett ausgebucht“, betont die junge Dame stolz. Sie führt uns durch ein Meisterwerk der Moderne. Die Villa Tugendhat in Brünn. Architekt: Mies van der Rohe. Bauhaus at its best. Die deutsche Journalistengruppe nickt zustimmend. Was für eine Villa! Leicht, luftig, elegant. Motto „Weniger ist mehr“. Flachdach. Fließende Räume, viel Beton und Glas. Die erste tragende Stahlkonstruktion in einem Privathaus. Seltene Materialien: Onyx aus Marokko, italienischer Travertin, Holzfurniere aus Südostasien. Einzigartig: eine Warmluftheizung. Elektrische Jalousien. Alles erbaut in vierzehn Monaten.
1930 zogen Fritz und Grete Tugendhat mit ihren fünf Kindern in die neue Villa ein. Das Haus am Hang mit Blick auf die Altstadt von Brünn zählte zum Modernsten, was es in Europa gab. Die Tugendhats machten ihr Geld mit Stoffen, Tuch und Seide. Brünn war das „mährische Manchester“. Doch ihr Glück in der luftigen Villa währte gerade einmal acht Jahre. 1938 mussten sie Hals über Kopf flüchten, als Hitler nach dem Münchner Abkommen Mähren annektierte. Schlechte Zeiten für jüdische Familien.
Die Tugendhats setzten sich über die Schweiz nach Venezuela ab. Die Nazis nutzten das „jüdische Haus mit Flachdach“ als ein Konstruktionsbüro für die Rüstungsproduktion. Auftrag: „Bomben für den Endsieg“. 1945 marschierte die Rote Armee in Brünn ein. Die Soldaten brieten im Wohnzimmer am offenen Feuer Ochsen und verwandelten die Villa in einen Pferdestall. Jetzt wurden die Deutschen aus der Stadt vertrieben. Den berüchtigten „Brünner Todesmarsch überlebten im Mai 45 Tausende nicht.
Nach Kriegsende zogen Kinder und Kranke in die Luxus-Villa am Berg ein. Das Haus wurde zuerst als Ballettschule, in den fünfziger Jahren als medizinische Einrichtung für Heilgymnastik genutzt. Im großzügigen Wohnzimmer wurde nun geturnt. Ab den achtziger Jahren stand die Tugendhat-Villa leer. Die kommunistische Regierung entschied schließlich auf Drängen tschechischer Architekten das Haus einer Kapitalistenfamilie zu sanieren. Die Villa diente nun als Gästehaus der Regierung.
Noch einmal schrieb Anfang der neunziger Jahre die Villa Geschichte. Der Tscheche Vaclav Klaus und der Slowake Vladimir Meciar beschlossen 1992 die Trennung ihres Landes. Nach zwei Stunden im Wohnzimmer war alles vorbei. Die Tschechoslowakei hörte auf zu existieren. Immerhin eine friedliche Scheidung und kein blutiger Exzess wie in Jugoslawien. Der Wunsch der Witwe Grete Tugendhat nach „Öffnung des Hauses für alle“ konnte erst im 21. Jahrhundert erfüllt werden.
Die Villa wurde in den Jahren 2010 bis 2012 aufwändig und originalgetreu grundsaniert. Mies van der Rohes kühner Entwurf ist mittlerweile UNESCO-Weltkulturerbe. In diesem Jahr feiert das Bauhaus sein hundertjähriges Jubiläum. Der Tipp: Rasch auf die Warteliste setzen lassen. Der Ausflug nach Brünn lohnt sich. Zu entdecken ist nicht nur ein faszinierendes Denkmal der Moderne. Die Villa mit ihren Höhen und Tiefen erzählt viel mehr über das vergangene Jahrhundert als alle dicken Geschichtsbücher.