Take a walk
Reisender kommst du nach New York, heißt es: Los geht´s. Immer die Fifth Avenue lang. Geradeaus. Gen Süden. Vorbei am Central Park. Zwischen Häuserschluchten, hupenden Autos, eilenden Passanten, kichernden Touristen und misstrauischen Polizisten. In den Himmeln ragen Hochhäuser dünn wie Bleistifte. Lustwandeln wie einst Fontane? Geht nicht in dieser Stadt. Manhattan erhöht den Blutdruck. Kostenlos. Alles andere ist eine Nummer größer als anderswo und auf alle Fälle sündhaft teuer.
Warte nicht, bleib nicht stehen! Business wird gemacht. Wo eilen die Menschen hin? Zu Events, Meetings, Partys? Der New Yorker ist busy. Time is money. Schaufenster mit prächtig-schrillen Angeboten. Teure Accessoires, zum Beispiel ein Damentäschchen in Dackelform von Gucci. Dazu Gedanken von Susan Sontag. Mode ist, „wenn Style über Inhalt, Ästhetik über Charakter und Ironie über Tragödie siegt“. Die Modebranche zitiert eine ihrer schärfsten Kritikerinnen. Muss verkaufsfördernd sein, sonst wären ihre Gedanken nicht in Bestlage ausgestellt.
Schnell weiter auf dem Laufsteg der Eitelkeiten. Keine Atempause! Vor dem Trump-Tower stehen Marsmenschen. Es sind schwer bewaffnete Cops mit Helm, Sonnenbrille und MPi. Chinesische Touristen machen Selfies mit ihnen. Alle genießen die Show. Gutgekleidete Männer und Frauen im Business-Alter hetzen vorbei. Sie reden laut und mit sich selbst, über Termine, Treffen und Investments. Stöpsel im Ohr. Junge Avantgarde auf der Überholspur der Fifth Avenue. Vor den Eingängen Männer im Anzug. Hände wie zum Gebet gefaltet. Wacher Blick. Doormen oder andere Security-Gestalten. Sie kommen aus aller Welt. Viele mit hartem, osteuropäischen Akzent. Aus Montenegro, Mazedonien oder auch aus Algerien. Sie sind die Türsteher der Reichen.
Vor dem MoMa Menschenmassen. Kunst zieht. In den heiligen Hallen schiebende Menschentrauben – vor Vincent Van Gogh oder Gustav Klimt in der fünften Etage. Die Smartphones laufen heiß. Kampf um den besten Platz. Es klickt in einem fort. Schnell weiter. Nur nichts verpassen. Vor Kaufhäusern oder Edel-Boutiquen campieren Bettler. Manche zeigen offene Wunden an Beinen und Armen. Einer schneidet sich die Fußnägel. Sie gehören zur Straße wie Ampeln, Sirenengeheul oder schreiende Straßenverkäufer. Es beginnt zu nieseln. Eine Frau ruft „Umbrellas“. Regenschirme haben jetzt Konjunktur. 50 Dollar das Stück.
Rasch über die Straße! Auf den Stufen der St. Patricks-Kathedrale sitzt ein deutscher Schauspieler. Er spielt mit seinem Handy. Als wir ihn grüßen, lächelt Lars Eidinger freundlich zurück. Er ist doch nicht allein – der German-Man in New York. In der katholischen Kirche ist Mittagsmesse. Der Pastor betet, ein schwarzer Obdachloser kommentiert lautstark Predigt, Psalme und Segen. Niemand stört´s. Unsere blonde Sitz-Nachbarin zur Rechten verbirgt ihr Gesicht. Ist sie allein? Verzweifelt? Bittet sie um Hilfe? – Wer weiß es? Die Dame, Mitte vierzig, will offenbar nicht gestört werden. Take care.
Raus aus der Touristen-Kirche, rein ins Leben. Juweliere preisen edle Ringe oder anderes Geschmeide an. Diskret ohne Preise. Am Rockefeller-Center schieben sich die Massen wie Lemminge in die Geschäfte. Ein großes Messingschild erinnert an den amerikanischen Traum The pursuit uf happiness – das Streben nach Glück. Eine Ecke weiter im Medienviertel buhlen Laufbänder um Aufmerksamkeit. Fox News, Trumps Haussender, meldet: „Große Bedrohung. Artenvielfalt geht verloren. Mittlerweile leben weltweit mehr Tiger in Zoos als in der Wildnis. 12.500 Tiger in Zoos. 4.000 in Freiheit. Eine Herausforderung für Eltern, Gesellschaft und die Welt.“ Niemand schaut hin. Mitten im Business-Viertel ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Oder seinem Smartphone. Tiger sind weit weg. Dezent tätowierte zweibeinige Fabelwesen in High Heels trippeln vorbei. Ein Wachmann gähnt. Eine aufgeregte asiatische Reisegruppe schnattert hinter ihrem Reiseleiter her. Sie zücken ihre Phones wie Revolver. Jederzeit schussbereit.
Unser Kopf brummt. Wo ist ein Ort zum Ausruhen und Verweilen? Sorry. Das heißt hier Chillen und Relaxen. Aber wo? An der 42. Straße eine Art antiker Tempel. Selbst dieser Koloss wirkt verloren zwischen den Hochhäusern. Aber der freundliche Riese lädt ein und beruhigt. Die Public Library – „das Wohnzimmer der New Yorker“. Die Bibliothek ist kostenlos – und für jedermann frei zugänglich. Eine Kathedrale des Wissens. Sozusagen ein begehbares Internet. Ein Gruß aus dem vergangenen Jahrhundert. Durchatmen! In der Lobby am Museumsshop grüßt ein älterer Herr mit wildem Haar. Einstein in New York. Das Genie im Angebot. Die kleinen Figuren winken fröhlich. Dazu die Botschaft: „Die wichtigste Sache im Leben ist, nie aufzuhören zu fragen.“
Aber, ach, weiter geht´s – immer die Fünfte entlang. Richtung Süden. Bis zur Spitze.